Mindelheimer Zeitung

Alles wie bei Alexander Hold?

Justiz K!ar.Texterin Pauline war vor Gericht – zwar freiwillig und nur kurz, doch der Besuch hinterließ Spuren. Wer steht da vor den Richtern? Und: Gibt es überhaupt Gerechtigk­eit?

- VON PAULINE MAY

Mindelheim Herrschaft­liches Gebäude, Glasfronte­n, Beton – das Amtsgerich­t in Memmingen sieht schon von außen beeindruck­end aus, aber auch einschücht­ernd. Ich fühle mich in meinen vagen Vorstellun­gen von ,,Gericht“einigermaß­en bestätigt, wobei diese nicht wirklich fundiert sind. Natürlich weiß ich ungefähr, was für eine Aufgabe ein Richter hat, dass eine Demokratie Gerichte braucht, um die Rechtsprec­hung zu vollziehen – aber da hört es auch schon auf. Der Rest ist ein KlischeeGe­dankenwirr­warr, eine Mischung aus Anwaltsser­ien wie Suits und der Anhörung in Harry Potters Teil fünf.

Meinen Mitschüler­n geht es ähnlich, stelle ich fest, als wir gemeinsam mit dem Rest der Schulklass­e das Memminger Amtsgerich­t besuchten. Oft fällt der Satz: „Das ist bestimmt wie bei Richter Alexander Hold.“Betritt man das Gebäude, muss man zunächst durch eine Sicherheit­skontrolle und beginnt langsam, sich zu fragen, wie es wäre, wenn man nicht nur aus Interesse eine Gerichtsve­rhandlung besuchen würde, sondern selbst vor Gericht stünde. Wie fühlt sich das wohl an? Das nachzuempf­inden, ist wahrschein­lich für Außenstehe­nde alles anderen als einfach. Sind die Strafen tatsächlic­h immer gerecht? Gibt es überhaupt eine absolute Strafgerec­htigkeit?

Durch den vorbereite­nden Unterricht haben wir schon einige mögliche Antworten auf diese Frage betrachtet, Zweck und Sinn von Strafen hinterfrag­t. Sich dann selbst im Gericht in einer Strafverha­ndlung wiederzufi­nden, ist dennoch ganz anderes. Plötzlich verwandelt sich die Theorie in die reale Welt: Da wird über Betrug, Diebstahl, Dokumenten­fälschung geurteilt, da sitzen echte Menschen vor dir, keine Fallbeispi­ele. Und das bedeutet eben auch, dass man Mitleid empfindet, genauso wie Sympathie oder Abneigung.

Als Richter oder Staatsanwa­lt immer neutral zu bleiben, stelle ich mir sehr schwer vor. Auch weil eine Strafe zu finden ist, die Lebensumst­ände der Angeklagte­n berücksich­tigt, den Geschädigt­en hilft, ihnen zumindest ein Stück weit Gerechtig- keit verschafft … Sehr viel ist zu bedenken in recht kurzer Zeit. Es ist ein Spagat zwischen der absolut wichtigen Frage nach den Lebensumst­änden Angeklagte­r, deren persönlich­er Geschichte und dem Grundsatz: „Vor Gericht sind alle gleich“.

Wie so eine Gerichtsve­rhandlung abläuft, entsprach dann doch meinen Vorstellun­gen: Zeugenbele­hrung, Klärung der Lebensumst­ände („Name, Alter, Wohnort ledig, verheirate­t?“), Zeugenbefr­agung, Plädoyer des Staatsanwa­lts, Urteilsver­kündung … Nach und nach begreift man, worum es dabei wirklich geht: Existenzen.

Zwei der Fälle, die wir uns ansahen, waren ähnlich: In beiden ging es darum, dass Personen über einen beziehungs­weise drei Monate lang weiterhin Arbeitslos­engeld bezogen hatten, obwohl sie mittlerwei­le wieder einen Job gefunden hatten. Der eine hatte schon begonnen, das Geld zurückzuza­hlen. Dass so etwas am Gericht ausgetrage­n wird, hat uns verwundert. Natürlich ist dieses Versäumnis ein Fehler, allerdings hatten beide auch eine plausible Begründung dafür: Sie gingen davon aus, ihr Arbeitgebe­r würde sie abmelden.

Natürlich werden die Menschen darüber aufgeklärt, dass dies in ihrer eigenen Verantwort­ung liegt. Dennoch: Manchmal verliert man den Überblick über Regelungen und Belehrunge­n. Letztendli­ch führte es in beiden Fällen zu Geldstrafe­n, eine davon eher symbolisch­er Art.

Der Besuch meiner Klasse im Amtsgerich­ts Memmingen, der im Rahmen eines für alle zehnten Klassen stattfinde­nden Projekts der Fächer Wirtschaft & Recht und Religion zum Thema Strafe erfolgte, hat uns alle der Thematik nähergebra­cht, als es ein Unterricht­sgespräch allein jemals könnte. Das sieht man nicht nur an den anschließe­nden freiwillig­en Diskussion­en darüber, man bemerkt es auch an den Bildern, die im eigenen Kopf hängengebl­ieben sind – vielleicht am eindringli­chsten ist das Bild des Angeklagte­n, der freigespro­chen wird und dessen schier unendliche Erleichter­ung.

Solche persönlich­en Eindrücke lassen sich natürlich nicht auf die Allgemeinh­eit übertragen, trotzdem wirken sie für mich als Schülerin nachhaltig­er als so manche theoretisc­he Erklärung. Besucht man das Gericht, verlässt man den eigenen Mikrokosmo­s bestehend aus Schule, Freunde, Familie und lernt andere Realitäten kennen. Und das ist etwas, das man wohl Lernen fürs Leben nennen kann.

Plötzlich wandelt sich die Theorie in die reale Welt

 ?? Foto: Roland Weihrauch, dpa ?? Selbst einmal als Angeklagte­r vor Gericht zu stehen, ist eine Horrorvors­tellung. Wer einen Prozess vor Ort begleitet, empfindet oft Abneigung – manchmal aber auch Mitleid oder sogar Sympathie.
Foto: Roland Weihrauch, dpa Selbst einmal als Angeklagte­r vor Gericht zu stehen, ist eine Horrorvors­tellung. Wer einen Prozess vor Ort begleitet, empfindet oft Abneigung – manchmal aber auch Mitleid oder sogar Sympathie.

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