Von Deutschen und Ampeln
Mein Deutschsein wurde mir zuletzt vor Augen geführt, als ich in England an einer roten Fußgängerampel stand. Die Einheimischen vergewisserten sich mit einem Blick nach rechts und links, um nicht unmittelbar von einem heranrauschenden Auto überfahren zu werden. Sobald dieses Risiko ausgeschlossen werden konnte, schritten sie der anderen Straßenseite entgegen – das rotleuchtende, gefahrverheißende Männchen ignorierend. Ich wurde zurückgelassen. Dabei heißt es doch: „Rot stehen, Grün gehen.“
Diese gereimten Sprichwörter sind sprachliche Mahnmale, die den Deutschen immer an seinen tiefsten Wesenskern erinnern sollen: Ordnungsliebe, Regelhörigkeit und („Fünf Minuten vor der Zeit ist des Deutschen“-) Pünktlichkeit. Sie geben Handlungssicherheit und stärken das Wir-Gefühl in Abgrenzung zu allen Ampel-Ignoranten. Für den Deutschen würde die Nicht-Würdigung einer roten Ampel auch die Nicht-Würdigung dieser Essenz der deutschen Kultur und Identität bedeuten. Mit dem Innehalten an einer roten Ampel gedenkt der Deutsche im Ausland dem vaterlandgegebenen Verhaltenskodex.
Diese Akkuratesse macht den Deutschen im interkulturellen Austausch ein wenig unbeholfen. Er bemüht sich ja, andere Kulturen wertzuschätzen und zu tolerieren – wenn diese Kulturen bloß nicht so anders wären! Es wäre halt alles gleich viel leichter, wenn „die“nicht immer so laut reden und mit den Händen rumfuchteln würden und wenn man dort deutsche Hygienestandards antreffen würde.
Die roten Fußgängerampeln habe ich dann irgendwann doch ignoriert. Man muss sich ja schließlich anpassen.