Steuerskandal: Gericht erteilt dem Finanzamt Mindelheim eine Abfuhr
Justiz In einem Musterprozess bekommt ein Kläger Recht, der gegen die rückwirkende Nichtanrechnung der Gewerbesteuer in den bereits verjährten Fällen geklagt hat
Türkheim/Kaufbeuren Der Türkheimer Steuerskandal ist strafrechtlich aufgearbeitet, das Disziplinarverfahren gegen den langjährigen Leiter des Steueramtes der Verwaltungsgemeinschaft (VG) läuft – und jetzt kommt noch eine weitere juristische Auseinandersetzung hinzu, die weitreichende finanzielle Folgen haben könnte: Ulrich Lübbing, Fachanwalt für Steuerrecht in Kaufbeuren, vertritt Türkheimer Unternehmer und hat eine von mehreren Klagen beim Finanzgericht München, Außensenat Augsburg, eingereicht und in einem dort geführten Musterverfahren ein Urteil ergangen, mit dem den Klägern gegen das Finanzamt Recht gegeben wurde.
Die Versagung der Gewerbesteueranrechnung und die spätere rückwirkende Änderung der Einkommensteuerbescheide samt Erhöhung der Einkommensteuer ist nach der Auffassung des Finanzgerichts München unzulässig. Die geänderten Bescheide wurden in diesem Rechtsstreit vom Finanzgericht aufgehoben, so Rechtsanwalt Lübbing gegenüber der Mindelheimer Zeitung.
Peter Hoppe, Leiter der Außenstelle Mindelheim des Finanzamtes Memmingen-Mindelheim verwies auf Anfrage der MZ auf das Steuergeheimnis und war daher nicht zu einer Stellungnahme bereit.
Wie mehrfach berichtet, hatte die Verwaltungsgemeinschaft Türkheim in einer Vielzahl von Fällen keine Gewerbesteuer erhoben, sodass ein großer Steuerausfall entstand. Der frühere Leiter des VGSteueramtes war im Dezember 2018 vom Schöffengericht Memmingen zu einer elfmonatigen Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt worden. Zudem muss der 62-Jährige 2400 Euro an eine gemeinnützige Organisation zahlen.
Der Schaden, der durch die Untreue des Angeklagten entstanden
wird auf insgesamt rund drei Millionen Euro beziffert. Schon seit Beginn der 2000er-Jahre war es zu Unregelmäßigkeiten im Türkheimer Steueramt gekommen, wie sich im Verlauf der Beweisaufnahme gezeigt hatte. Im Zeitraum von 2001 bis 2015 hat der Beamte gut 1000 Steuerbescheide einfach verschwinden lassen.
Da aber ein Großteil der Fälle bereits verjährt war oder dann auch vom Memminger Schöffengericht nicht mehr alle vorliegenden Fälle in allen Details nachvollzogen werden konnten, sei dem Steuerzahler letztlich ein Schaden von gut 1,1 Millionen Euro entstanden.
Durch den Musterprozess am Finanzgericht Augsburg gibt es nun auf der finanziellen Seite weitere Entwicklungen. Es geht dabei in einigen Fällen um Beträge im fünfstelligen Bereich. Der Fachanwalt für Steuerrecht, Ulrich Lübbing, schildert den Fall so: Das Finanzamt Mindelheim habe versucht, diesen
Steuerausfall, bei denjenigen, bei denen die Gewerbesteuer verjährt ist, „quasi durch die Hintertür zu kompensieren“, so Lübbing. Dies habe jedoch „für erheblich Unruhe gesorgt“.
Laut Lübbing hätte das so funktionieren sollen: Die Gewerbesteuer sei bei natürlichen Personen und Personengesellschaften auf die Einkommensteuer anzurechnen. In einer Vielzahl von Fällen habe das Finanzamt Mindelheim daraufhin rückwirkend diese Anrechnung mit der Begründung versagt, dass die Gewerbesteuer nicht bezahlt wurde und daher nicht habe angerechnet werden können.
Lübbing: „Das Finanzamt forderte die nicht bezahlte Gewerbesteuer nunmehr als Einkommensteuer wieder ein. Durch diesen Trick kamen dann sogar noch Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer dazu, die sonst gar nicht angefallen wären“.
Steuerrechtlich sei „diese Vorgewar, hensweise von Anfang an strittig, da nicht vom Wortlaut des Gesetzes gedeckt“gewesen, so der Kaufbeurer Steuerrechtler. Und laut Lübbing war es auch nicht das Verschulden der Betroffenen, dass Türkheim die Gewerbesteuer nicht erhoben hatte und diese teilweise verjährte.
Sein Fazit: „Der Trick des Finanzamts funktioniert nicht. Das Finanzgericht hat dem zunächst eine Abfuhr erteilt.“Denn die Verjährung der Gewerbesteuer erlaube es dem Finanzamt nicht, die ursprünglichen Einkommensteuerbescheide zu ändern und diese um den Betrag der Gewerbesteuer zu erhöhen.
Lübbe dazu: „Das Finanzamt Mindelheim ist zwar nach gängiger Praxis vorgegangen. Es hätte aber selbst verhindern können, dass die ursprünglichen Einkommensteuerbescheide endgültig werden, in denen die Gewerbesteuer bereits angerechnet wurde, bevor die Gewerbesteuerbescheide überhaupt erlassen wurden“.
Das Finanzamt hätte, so Lübbe, die Einkommensteuerbescheide nur unter Vorbehalt der Nachprüfung erlassen müssen, worauf das Gericht hingewiesen habe. „Dies hatte das Finanzamt aber auch nicht getan“, so Lübbing. Auch dieses Versäumnis sei nicht den Klägern anzulasten.
Derzeit seien aufgrund des gleichen Sachverhaltes noch mehrere Klagen beim Finanzgericht rechtshängig, die ruhend gestellt sind, erklärt der Steuerrechtler.
Das Finanzgericht habe in dieser Angelegenheit aber die Revision zum obersten deutschen Steuergericht, dem Bundesfinanzhof in München zugelassen. Lübbing: „Es ist nun abzuwarten, ob das Finanzamt Mindelheim diesbezüglich in die Revision geht und wie der Bundesfinanzhof in diesem Fall entscheidet“.
Der Kaufbeurer Fachanwalt für Steuerrecht findet es „vor allem auch befremdlich, dass inzwischen z.B. bei den Kapitalerträgen international automatisiert Steuerdaten zur Vermeidung von Steuerhinterziehung ausgetauscht werden, es aber in Bayern ganz offensichtlich kein Kontrollsystem gibt, ob die Gemeinden die Gewerbesteuer auch tatsächlich erheben. Das ist eine der zentralen Ursachen des „Türkheimer-Steuerskandals“, sagt Rechtsanwalt Ulrich Lübbing.
„Das ist eine der zentralen Ursachen für den Türkheimer Steuerskandal“Der Fachanwalt für Steuerrecht, Ullrich Lübbing aus Kaufbeuren, vermisst in Bayern ein Kontrollsystem, ob die Gemeinden die Gewerbesteuer auch tatsächlich erheben