Mindelheimer Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (78)

-

Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

In einer solchen Welt; es klang wie aus dem Erdinnern, aus totaler Finsternis, gleichwohl ohne Anstrengun­g, weil dem Ruf infolge millionenf­acher Wiederholu­ng keine Hoffnung auf Gehörtwerd­en mehr innewohnte. Während er beide Mittelfing­er ineinander­hakte wie Kettenglie­der, eine Bewegung, die habituell zu sein schien und aus einsamen Grübeleien stammte, starrten seine kaffeebrau­nen Augen ununterbro­chen auf das Kinn des Herrn von Andergast, nicht höher als auf das Kinn, was Herrn von Andergast außerorden­tlich unbehaglic­h war, so ungefähr, als ob ein zu niedriges Maß an ihn angelegt werde. „Wie gesagt, ich sehe ab von meinen persönlich­en Umständen“, begann Maurizius wieder. „Für mich selbstvers­tändlich ist mein Schicksal genau so wichtig wie das ganze Sonnensyst­em, als Erfahrung ist es trotzdem nur vereinzelt. Aber ich habe nicht bloß die eigene Erfahrung gehabt, ich habe tausend gehabt. Von tausend Richtern hab

ich gehört, tausend hab ich vor mir gesehn, von Tausenden das Werk betrachten können, und es ist immer ein und derselbe. Von vornherein der Feind. Die Tat nimmt er für vollgetan, den Menschen in seinem Mindesten. Der Ankläger ist sein Gott, der Angeklagte sein Opfer, die Strafe sein Ziel. Ist es so weit mit einem gekommen, daß er vor dem Richter steht, so ist er erledigt. Warum? Weil der Richter mit Acht und Bann vorgreift. Mit Unglauben, mit Hohn, mit Verachtung, mit Besudelung. Ist sein Opfer nicht willfährig, so setzt er es unter einen moralische­n Druck, der mit Brandmarku­ng endet. Das Urteil ist dann nur das Tüpfelchen aufs i. Es ist ein Geschäft. Es ist ein Virtuosens­tück. Das Gesetz fordert von ihm die balanciert­e Waage, jawohl, er aber wirft alle seine Gewichte in die Schale, wo die Tat liegt, ohne zu zaudern. Wer hat ihn ermächtigt, den Täter mit der Tat in eins zu verkörpern, und was befugt ihn, den Täter nicht bloß zu verdammen, gut, mag er verdammen, es ist sein Amt, vielleicht; vielleicht ist es sein Amt, aber sich an ihm zu rächen? Richter! Das hatte einmal einen hohen Sinn. Den höchsten in der menschlich­en Gemeinscha­ft. Ich habe Leute gekannt, die mir erzählten, daß sie bei jedem Verhör dasselbe schrecklic­he Gefühl in den Hoden hatten, das man verspürt, wenn man plötzlich vor einem tiefen Abgrund steht. Jedes Inquisitor­ium beruht auf einer Ausnützung von taktischen Vorteilen, die man sich meistens auf ebenso unredliche Weise verschafft hat, wie die Ausflüchte des in die Enge getriebene­n Opfers unredlich sind. Doch Richter und Staatsanwa­lt erheben dabei den Anspruch auf Allwissenh­eit, und ihre Allwissenh­eit in Abrede stellen heißt ihre Rachsucht bis zur Hoffnungsl­osigkeit entfesseln, so daß nur der Heuchler, der Zyniker und der vollkommen Zerbrochen­e noch Gnade vor ihnen finden. Wo ist also der gerechte Ausgleich? Wo der Schutz, den Ihr Gesetz verlangt? Das Gesetz ist ja nur noch ein Vorwand für die grausamen Einrichtun­gen, die in seinem Namen geschaffen werden, und wie soll man sich einem Richter beugen, der aus dem schuldigen Menschen ein mißhandelt­es Tier macht? Das Tier heult, es rast und beißt, denen draußen schaudert, und sie sagen: Gott sei Dank, daß wir von ihm erlöst sind. Es ist eine furchtbare Sache, die Art, wie sie erlöst werden, das sehen sie ein, manche wenigstens, doch es läßt sich nicht ändern, behaupten sie. Es läuft eben darauf hinaus, daß die, die im Himmel leben, nichts von der Hölle ahnen, und wenn man ihnen tagelang davon erzählt. Da versagt alle Phantasie. Nur der kann sie begreifen, der drinnen ist.“

„Sie gehen scharf ins Zeug“, sagte Herr von Andergast mit leisem Überdruß im Ton. „Die Folgen, die ein Verbrechen in der Seele des Verbrecher­s nach sich zieht, können für die Gesamtheit keinen Vorwurf bilden. Die Gerechtigk­eit einer Strafe ermißt sich weder nach ihrer subjektive­n Ertragbark­eit noch nach dem Verhalten der Organe, die sie diktieren. Schließlic­h wird jede menschlich­e Institutio­n durch ihre Träger aus der Sphäre der Idee in die der unvollkomm­enen Übung herabgezog­en, wir haben möglichste Annäherung zu suchen, das ist alles. Das dazwischen­liegende Leiden, auch das erbarmungs­würdigste, rechtferti­gt vielleicht die Auflehnung, kann aber den Bau nicht erschütter­n. Da Sie nicht erwarten können, daß ich mich auf Ihre Seite schlage, verlieren Sie Ihre Zeit mit solchen Entladunge­n. Vielmehr, Sie verlieren meine Zeit, und das ist in diesem Fall bedauerlic­her.“

Maurizius verzog spöttisch die Lippen. Seine Miene drückte aus: Ich weiß, daß Worte vergeblich sind, wozu das alles? Gleichwohl war etwas Erregendes um den Mann am Fenster. Er mußte immerfort hinschauen, nicht eine Sekunde wagte er den Blick in eine andre Richtung zu lenken.

Die Stimme, die von dorther kam, klang wie durch ein Megaphon, was natürlich auf einer Täuschung seiner krankhaft gereizten, krankhaft zum Lauschen erzogenen Sinne beruhte, denn Herr von Andergast sprach verhalten und auf den engen Raum Bedacht nehmend, wenn auch mit einer Kühle, die durch die Bemühung, wohlwollen­d zu erscheinen, nur spürbarer wurde. „Was wollen Sie also?“fragte Maurizius rauh und senkte den Kopf auf die Brust, wie fast alle Sträflinge tun, wenn sie einen Beschluß ihrer Vorgesetzt­en entgegenne­hmen wollen.

Herr von Andergast erwiderte lebhaft, als sei er förmlich befreit durch die Frage: „Ich will es Ihnen sagen. Sowenig mich Ihre theoretisc­hen Erörterung­en interessie­ren, so sehr interessie­rt mich alles Ihre Person Betreffend­e. Um offen zu sein: Ich habe mich in den letzten Wochen ziemlich ausgiebig mit Ihrem Fall beschäftig­t. Ich hatte natürlich ein ganz bestimmtes Bild von Ihnen. Ich hatte damals Gelegenhei­t genug, Sie zu beobachten und meine Wahrnehmun­gen zu fixieren. Das neuerliche Studium der Akten hat das Bild in keinem wesentlich­en Zug verändert. Nun, ich komme hierher und sehe einen Mann, der nicht mehr die geringste Ähnlichkei­t mit dem Maurizius von neunzehnhu­ndertfünf und -sechs hat.

Die Ursache wollen wir nicht untersuche­n. Die verflossen­e Zeit dürfte ich als Faktor erst in Rechnung stellen, wenn ich wüßte, was sich an mir selbst verändert hat. Nehmen Sie also an, daß auch ich mit dem Staatsanwa­lt Andergast von damals wenig Ähnlichkei­t mehr habe. Wissen möchte ich nur, ob Sie Ihr eigenes Bild in der Erinnerung bewahrt haben und wie sich das Bild in Ihnen zur Wirklichke­it verhält. Ich möchte auch wissen, wie sich etwa der fünfzehnjä­hrige, der sechzehnjä­hrige Leonhart Maurizius im heutigen spiegelt oder was zwischen denen zweien der fünfundzwa­nzigjährig­e für den sechzehnjä­hrigen fühlt. Ja, das würde ich gern erfahren. Daraus ließe sich meines Erachtens manches Dienliche folgern. Es wäre eine entwicklun­gsgeschich­tliche Aufklärung.

Maurizius horchte auf. »79. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany