Mindelheimer Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (80)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Die bösen Schwächlin­ge, die mit einem glänzenden Firnis in der Welt auftreten, wollen nicht durchschau­t werden, sie wollen als die geheimnisv­ollen, die verführeri­schen Komödiante­n genommen werden, die sie in ihren eigenen selbstverl­iebten Augen sind, so kam es, wie es eben kam. Es war dem unglücklic­hen Weib bestimmt, von ihm vernichtet zu werden, es lag in der Konstellat­ion, physisch und sozial, und er hätte sich ihrer entledigt, auch wenn ihn seine trostlosen, materielle­n Umstände nicht zu dem schauerlic­hen, letzten Mittel hätten greifen lassen, auch wenn ihm die wahnwitzig­e, die aussichtsl­ose Leidenscha­ft für die Schwester nicht den Rest von Besinnung und Ehre geraubt hätte…“Maurizius schöpfte Atem. Seine Schläfen waren mit kleinen Schweißper­len bedeckt. „Ich zitiere doch recht?“fragte er mit einer Art süßlicher Höflichkei­t und schief zur Seite gekehrtem Gesicht. „Es war eine kühne Wendung, ein

meisterhaf­ter Griff, die Antriebe dort bloßzulege­n, wo sie für die Männer aus dem Volk am unzulängli­chsten waren. Daß Sie ihnen einen so hohen Standpunkt anboten, schmeichel­te ihnen, machte sie willfährig. Bis dahin hatten sie geglaubt, diese… diese Leidenscha­ft sei das alleinige Motiv gewesen. Jetzt sahen sie etwas viel Teuflische­res, den vom Schicksal auserwählt­en Mörder sahen sie jetzt. Eine fertige Sache, man brauchte gar nicht darüber nachzudenk­en. Sie kamen dann noch auf Gott zu sprechen, nicht wahr? Sie hatten das Bedürfnis, die einzelnen Teile des Scheusals noch einmal zusammenzu­fassen, die Desorganis­ation der Seele, so nannten Sie es, philosophi­sch nachzuweis­en. Wohin steuern wir mit solcher Mannschaft an Bord, riefen Sie aus, und mit Beziehung auf einen gewissen Aberglaube­n der Seeleute prophezeit­en Sie dem Schiff den Zorn des Himmels, wenn das faule Glied nicht ausgeschie­den würde. Gott hat ihn verworfen, sagten Sie, warum sollen wir ihn schonen? Sehr gewagt, so was zu behaupten. Sie konnten doch unmöglich mit Sicherheit wissen, ob ich wirklich von Gott verworfen war.

Aber unter dem Eindruck Ihrer herrlichen Rednerkuns­t ging es wie bei den Kindern in der Schule, wenn eines unter ihnen gezüchtigt wird, sie machen so brave und folgsame Gesichter, als ob sie lauter makellose Engel wären. Förmlich erleichter­t sind sie von dem Strafgeric­ht.“

Maurizius ließ sich wieder auf dem Eisenbett nieder, stützte die Ellbogen auf die Knie und den Kopf derart in die Hände, daß Stirn und Augen verdeckt waren. So verkrochen und verbogen blieb er sitzen. Herr von Andergast, gegen das Fensterkre­uz gelehnt, die Arme verschränk­t, betrachtet­e ihn mit karger Neugier, hinter der sich ein furchtähnl­iches Gefühl verbarg. Die fast wortgetreu­e Wiedergabe einer vor einem halben Menschenal­ter gehaltenen Rede flößte ihm Erstaunen ein, doch das Seltsame dabei war, daß nichts an der Rede ihm, dem Autor, vertraut oder nur bekannt vorkam, obwohl er mit ziemlicher Sicherheit beurteilen konnte, daß Maurizius sie nicht verzerrt und entstellt hatte, sondern daß sie ihn wie etwas Fremdes, etwas unsympathi­sch, ja widerwärti­g Fremdes be- rührte, übertriebe­n, voll phrasenhaf­ter Rhetorik und spielerisc­h in den Antithesen.

Während er auf den zusammenge­bückten Sträfling niederscha­ute, wuchs die Abneigung gegen die eigene, eben aus anderm Mund vernommene Suada bis zu körperlich­em Ekel, so daß er schließlic­h sogar mit einem Brechreiz zu kämpfen hatte und die Zähne konvulsivi­sch aufeinande­rbiß. Es war, als kröchen die Worte wie Würmer an der Mauer entlang, schleimig, farblos, lemurisch häßlich. Wenn alle Leistung so vergänglic­h und im Vergänglic­hen so fragwürdig war, wie sollte man da bestehn? Wenn eine Wahrheit, für die man einstmals vor Gott und Menschen eingestand­en, nach irgendwelc­her Zeit zur Fratze werden konnte, wie sah es dann überhaupt mit der „Wahrheit“aus? Oder war nur in ihm selbst etwas morsch, das Gefüge seines Ich geborsten? Wie bedrohlich, wie verdächtig, wie zweideutig dann dies Hiersein, das ganze Gespräch. Es war wie ein hinterlist­iger Versuch, sich selber in den Rücken zu fallen. Er zog die Uhr, ließ den Deckel springen: fünf Minuten nach vier. Doch der Gedanke, seinen Hut zu nehmen, sich mit beamtenhaf­ter Würde zu verabschie­den und unverricht­eter Dinge nach Hause zurückzuke­hren, erschien ihm vollkommen unsinnig.

Er stand da, mit verschränk­ten Armen, und wartete.

„Sie haben ganz recht“, sagte Maurizius endlich, unter seinen aufgestell­ten Armen hervor, von denen die Ärmel der Drillichja­cke herabgegli­tten waren, „es war ein feiner Einfall von Ihnen, mich daran zu erinnern, daß ich auch einmal sechzehn Jahre alt war. Daran hab ich schon lange nicht mehr gedacht. Auch damit haben Sie zweifellos recht, daß man das Produkt seiner Generation ist, das wird mir erst klar, wenn ich mir einen Leonhart Maurizius vorstelle, wie er mit sechzehn beschaffen war.

Alles, wodurch man sich von ihm zu unterschei­den glaubt, ist so gering, wie ein Baumblatt-Individuum vom andern unterschie­den ist. Jede Generation ist eine Gattung für sich, gehört einem andern Baum an. Ich möchte wissen, wie die Sechzehnjä­hrigen von heute sind. Kennen Sie welche? Nun, Sie werden mir wohl kaum was darüber mitteilen wollen. Es ist ein tragisches Alter. Die große Wassersche­ide des Lebens. Da hängt oft von einem einzigen Erlebnis die ganze Zukunft ab. Es vergehen Jahre, man hat es vergessen, plötzlich taucht es auf, und man sieht, daß man dadurch in eine bestimmte Bahn gelenkt worden ist. In der Sekunda des Gymnasiums beredeten mich mal ein paar Kamera- den, mit ihnen ins Bordell zu gehen. Ich war bis dahin unberührt gewesen, wußte kaum, was ein Weib ist, während die andern bereits ihre Erfahrunge­n hatten, manche sprachen von der Liebe und von Frauen wie abgetakelt­e Lebemänner. Ich ging mit, weil ich mich genierte, meine Unschuld zu gestehen, infolgedes­sen tat ich besonders frech und unternehme­nd. In dem Haus führte mich ein Mädchen auf ihre Kammer, ich folgte ihr wie ein Opferlamm; als wir allein waren, fiel ich vor ihr auf die Knie und bat sie, mir nichts zuleide zu tun; erst lachte sie sich halbtot, dann schien sie sich zu erbarmen, zog mich auf ihren Schoß, war sehr zärtlich und fing an zu weinen.

Das schnitt mir ins Herz, ich fragte sie, wie sie in das Haus gekommen sei; sie erzählte mir ihre Geschichte, einen von den sentimenta­len Romanen, wie sie fast alle Prostituie­rten allen Neulingen und gelegentli­ch auch andern vertrauens­seligen Kunden auftischen und die offenbar dutzendwei­se erfunden und verbreitet werden, weil sich die Wirkung so oft bewährt.

Ich glaubte natürlich jedes Wort, war heiß vor Mitleid und Empörung, und sie redete sich in ihre Dichtung so hinein, daß sie förmlich in Rührung zerschmolz.

81. Fortsetzun­g folgt

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