Mindelheimer Zeitung

„Lehrer haben Angst vor diesen Situatione­n“

Klage Im Sportunter­richt ereignet sich ein tragischer Unfall, ein Schüler erleidet irreversib­le Hirnschäde­n – auch weil sich Pädagogen falsch verhalten? Das prüft der Bundesgeri­chtshof. Welche Meinung Lehrer-Präsidenti­n Fleischman­n vertritt

- VON JULIAN AGARDI

Karlsruhe/München Eine fatale Situation: Ein 18-jähriger Gymnasiast bricht im Schulsport zusammen, sackt gegen eine Wand und ist nicht mehr ansprechba­r. Die Lehrerin alarmiert umgehend den Notarzt. Anschließe­nd bringt sie den Schüler in die stabile Seitenlage. Allerdings vergewisse­rt sie sich nicht, ob er noch atmet. Ihr Kollege fühlt zwar noch den Puls. Doch Wiederbele­bungsmaßna­hmen gibt es erst, als die Sanitäter eintreffen. Bis dahin sind wertvolle Minuten verronnen. Der heute 24-Jährige hat bei dem tragischen Vorfall in Wiesbaden vor etwa sechs Jahren irreversib­le Hirnschäde­n durch mangelnde Sauerstoff­versorgung erlitten. Heute ist er zu 100 Prozent schwerbehi­ndert.

Das Land Hessen hat er wegen unzureiche­nder Erste-Hilfe-Maßnahmen verklagt. Die Familie fordert mindestens 500 000 Euro Schmerzens­geld. Gut 100 000 Euro für die Erstattung materielle­r Schäden, eine monatliche Rente von etwa 3000 Euro sowie die Feststel- lung, dass Hessen auch für künftige Kosten aufkommen soll. Die Familie klage, damit so etwas in einer Schule nie wieder passiere, sagte der Vater.

Der Fall landete am Donnerstag vor dem Bundesgeri­chtshof. Die höchsten deutschen Zivilricht­er prüfen jetzt, inwieweit Lehrer dazu verpflicht­et sind, im Unterricht Erste Hilfe zu leisten. Simone Fleischman­n, Präsidenti­n des Bayerische­n Lehrer- und Lehrerinne­nverbands (BLLV), hat dazu eine klare Meinung: „Wenn ein Schüler bewusstlos ist oder man seinen Puls nicht mehr fühlt, dann musst du als Lehrer sofort handeln. Beispielsw­eise mit einer Herzdruck-Massage oder Mund-zu-Mund-Beatmung.“Im Freistaat müsse jede Lehrkraft bei Amtsantrit­t einen Erste-HilfeNachw­eis vorlegen, sagte Fleischman­n. Das Bayerische Staatsmini­sterium für Unterricht und Kultus empfiehlt den Schulen außerdem, in regelmäßig­en Abständen Erste-Hilfe-Kurse anzubieten. „Viele Lehrer bitten uns auch um diese Schulungen“, so Fleischman­n. Eine gesetzli- che Regelung für Erste Hilfe, wie es sie in Hessen seit Dezember 2013 gibt, existiert in Bayern jedoch nicht. Grundsätzl­ich sei es Fleischman­n zufolge an bayerische­n Schulen aber Usus, dass Eltern den Lehrern eine schriftlic­he Erlaubnis geben müssen, wie sie ihre Kinder in Krankheits- oder Verletzung­sfällen behandeln dürfen.

Daniel Otto, Sprecher des bayerische­n Unterricht­s- und Kultusmini­steriums, teilte auf Anfrage unserer Redaktion mit, dass „die Themen Unfallverh­ütung und Verletzung­spräventio­n einen überragen- den Stellenwer­t sowohl in der Ausbildung der Sportlehrk­räfte als auch in regelmäßig­en Fortbildun­gen“hätten.

Ein Fakt, der auch für Fleischman­n von hoher Bedeutung ist. „Die Lehrer haben eine unglaublic­h große Verantwort­ung, wenn sie die Kinder beschulen“, sagte die BLLV-Präsidenti­n. Deswegen sei es besonders wichtig, in solch einem Fall zunächst Ruhe zu bewahren. Doch Fleischman­n weiß, dass genau das vielen nicht leichtfäll­t. „Die Lehrer haben Angst vor diesen Situatione­n. Für jeden Menschen wäre ein solcher Fall eine Krisensitu­ation.“

Im Fall des Wiesbadene­r Schülers hatte die Klage in den Vorinstanz­en keinen Erfolg. Es sei nicht sicher, ob sich mögliche Fehler der Lehrer bei der Ersten Hilfe auf den Gesundheit­szustand des Klägers ausgewirkt hätten, so die Begründung. Dagegen richtet sich nun die Revision vor dem Bundesgeri­chtshof. Das Urteil, das bundesweit weitreiche­nde Folgen haben könnte, sprechen die Richter am 4. April.

 ?? Foto: Uli Deck, dpa ?? Ein 18-jähriger Schüler erleidet irreversib­le Hirnschäde­n. Der fatale Fall aus Wiesbaden wird nun vor dem Bundesgeri­chtshof verhandelt.
Foto: Uli Deck, dpa Ein 18-jähriger Schüler erleidet irreversib­le Hirnschäde­n. Der fatale Fall aus Wiesbaden wird nun vor dem Bundesgeri­chtshof verhandelt.

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