Mindelheimer Zeitung

Ruhe bitte

Joachim Löw wurde nach dem WM-Debakel eine Bewährungs­zeit eingeräumt. Gegen die Niederland­e müssen der Trainer und die Elf liefern, sonst drohen stürmische Zeiten

- VON TILMANN MEHL

Besser hätte die Planung nicht sein können. Wer hier nicht zur Ruhe findet, muss entweder ein Leben als Eremit in den Alpen führen oder sich – belegt mit einem Schweigege­lübde – ins Kloster zurückzieh­en. Niedersach­sen. Wolfsburg. Eine Stadt, deren Charme mit dem Adjektiv spröde noch wohlwollen­d beschriebe­n ist. Genau richtig, um dieser sich im Umbruch befindende­n Mannschaft das zu gönnen, was für ihre Entwicklun­g am wichtigste­n ist: Ruhe. Die Mannschaft von Bundestrai­ner Joachim Löw hätte ja auch schon am Donnerstag oder Freitag dorthin übersiedel­n können, wo die nächste Aufgabe parat steht. Aber Amsterdam? Das Einzige, was dort beruhigend wirkt, steht im Kontrast zu den Dopingrich­tlinien. In Amsterdam aber steht am Sonntag jenes Spiel an, das darüber entscheide­t, ob Löw auch die kommenden Partien in relativer Ruhe angehen kann. Dem Bundestrai­ner wurde nach der WM eine Bewährungs­zeit eingeräumt. Der DFB gewährte ihm Zeit und Gestaltung­sfreiraum, die deutsche Mannschaft wieder in die Weltspitze zu führen. Das erste Zwischenfa­zit fiel ernüchtern­d aus. Dem Abstieg aus der Nations League wurde zwar keine allzu große Bedeutung beigemesse­n, dass Deutschen dort aber keine einzige Partie gewannen, stimmte nachdenkli­ch. Löw legte nach und verabschie­dete Mats Hummels, Jérôme Boateng sowie Thomas Müller aus der Nationalma­nnschaft. Wille zur Erneuerung ist ihm also keinesfall­s abzusprech­en. Mit Willen allein Spiele zu gewinnen, war aber den Briegels und Kohlers vorbehalte­n. Von den sieben Partien seit diesem vermaledei­ten russischen Sommer hat Löw nur zwei gewonnen gegen die nicht als fußballeri­sche Großmächte bekannten Russen und Peruaner. Das 1:1 gegen Serbien am Mittwoch nährte allenfalls in homöopathi­scher Dosis die Hoffnung auf baldige Besserung. Nun steht am Sonntag das erste Spiel der EM-Qualifikat­ion in den Niederland­en an (20.45 Uhr, RTL). Sollte Löws Team ähnlich naiv auftreten wie bei der 0:3-Niederlage im vergangene­n Oktober, ist es endgültig vorbei mit der Wolfsburge­r Ruhe. Dann werden die Fragen nach einer wie auch immer gearteten Weiterentw­icklung virulent und letztlich stünde auch die Eignung Löws, den Wiederaufb­au zu organisier­en, zur Diskussion. Bis sich die deutsche Mannschaft nämlich wieder mit einem Gegner misst, der als angemessen gilt, einen Fortschrit­t erkennen zu lassen, vergeht ein halbes Jahr. Im Juni stellen sich mit Estland und Weißrussla­nd Gegner im Kampf um die EM-Tickets entgegen, die wohl auch Müldie ler, Boateng, Hummels, Khedira und Gomez vor keine großen Probleme stellen würden. Erst im September bekommen es die Deutschen wieder mit einem starken Gegenüber zu tun: den Niederländ­ern. Mal wieder. Würde DFB-Präsident Reinhard Grindel aber so lange seine schützende Hand über Löw halten, falls das sonntäglic­he Spiel offenbart, dass all die eingeleite­ten Veränderun­gen noch nicht greifen? Nirgendwo wird schneller ein Treuebeken­ntnis aufgehoben als im Sport und in der Politik. Grindel war lange Zeit Bundestags­abgeordnet­er. Den Niederländ­ern jedenfalls ist nicht daran gelegen, Löws Mannschaft besonders zuvorkomme­nd zu begegnen. Sie verpassten sowohl die vergangene Welt- wie auch Europameis­terschaft, brauchen also selbst immer noch Siege, um sich wirklich wieder als vollwertig­es Mitglied des Fußballade­ls zu fühlen. Auf dem Weg dorthin sind sie freilich weiter als die Deutschen. Ronald Koeman übernahm im Februar 2018 als Trainer das Team vom zurückgetr­etenen Dick Advocaat. Mit vielen jungen Spielern und in aller Ruhe scheinen die Niederländ­er den Umbruch geschafft zu haben. Davor aber mussten sie erst zwei Turniere zuschauen. Das immerhin ist den Deutschen bislang erspart geblieben.

 ?? Foto: Boris Roessler, dpa ?? Bislang konnte Bundestrai­ner Joachim Löw vergleichs­weise ruhig arbeiten. In der EM-Qualifikat­ion stehen Team und Coach jedoch unter Druck.
Foto: Boris Roessler, dpa Bislang konnte Bundestrai­ner Joachim Löw vergleichs­weise ruhig arbeiten. In der EM-Qualifikat­ion stehen Team und Coach jedoch unter Druck.

Newspapers in German

Newspapers from Germany