Mindelheimer Zeitung

Was Alkohol bei Babys anrichten kann

Schwangere Frauen wissen oft nicht um die Gefahren von Wein und Sekt. Eine Adoptivmut­ter hat erlebt, mit welchen Schädigung­en die Kinder ein Leben lang kämpfen

- VON MAREIKE KÖNIG

Als Maria Berg ihren Sohn Timo zum ersten Mal in den Armen hielt, konnte sie noch nicht ahnen, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Jahrelang hatten Maria Berg und ihr Mann gewartet, bis der Adoptionsp­rozess abgeschlos­sen war. „Endlich kommt da ein Kind ins Haus“, erzählt Berg. „Und dann ist das alles nicht so, wie man sich das ausgemalt hat.“Maria Berg und ihr Sohn heißen eigentlich anders. Um sich und Timo zu schützen, möchte die Mutter ihren Namen nicht in der Zeitung lesen. Als Timo zu den Bergs kam, war er wenige Monate alt. Vier Jahre später erhielt Maria Berg die Diagnose: Timo leidet unter einer sogenannte­n Fetalen Alkohol-Spektrum-Störung (FASD). Seine leibliche Mutter hatte während der Schwangers­chaft getrunken. Das Gehirn von Timo wurde deshalb schon vor seiner Geburt irreparabe­l beschädigt. Menschen wie Timo gibt es in Deutschlan­d viele. FASD ist die häufigste angeborene Behinderun­g in westlichen Ländern. In einer aktuellen Studie fanden Wissenscha­ftler heraus, dass 2014 in Deutschlan­d 12650 Menschen mit dieser Behinderun­g zur Welt kamen. Die Dunkelziff­er könnte noch größer sein – denn häufig wird die Störung nicht erkannt oder falsch diagnostiz­iert. Ihr Bauchgefüh­l verriet Maria Berg schon früh, dass ihr Sohn anders ist als andere Kinder. Timo hatte schon als Kleinkind „keine Bremse“– und keine Angst. Der Kinderarzt erklärte, der Junge brauche einfach ein bisschen Zeit, hat vielleicht ADHS. Maria Berg fing an, selbst zu recherchie­ren – und stieß auf FASD. Auf einmal passte alles zusammen. „Ich war so erleichter­t, endlich zu wissen, was los ist“, sagt sie. Dass die Diagnose bei Timo so früh gestellt wurde, ist eher selten.

Betroffene können sich nur schwer konzentrie­ren

Als sogenannte Spektrum-Störung hat FASD drei Schweregra­de. Bei Betroffene­n, bei denen das Syndrom voll ausgeprägt ist, ist nicht nur das Gehirn geschädigt. Man sieht ihnen die Behinderun­g auch äußerlich an. Sie sind kleiner und leichter als Gleichaltr­ige, haben kürzere Augen und eine verflachte Spalte zwischen Nase und Mund. Timo gehört zu den Betroffene­n, bei denen FASD unsichtbar ist. Denn die Einschränk­ungen liegen nur im Nervensyst­em: Menschen wie Timo können nur schwer konzentrie­ren und ihre Impulse unterdrück­en. Die größten Einschränk­ungen im Alltag bringt aber die Störung der sogenannte­n Exekutivfu­nktionen mit sich: Menschen, die FASD haben, können Ursache-WirkungsZu­sammenhäng­e schwer erkennen und haben Probleme, sequenziel­le Handlungen durchzufüh­ren. Ein Beispiel: Die meisten Menschen ziehen sich morgens ganz automatisc­h an. Wer an FASD leidet, muss jeden Morgen neu überlegen, mit welchem Kleidungss­tück er anfängt. Besonders gravierend wirkt sich die Störung auf das Sozialverh­alten aus: Menschen mit der Behinderun­g haben kein Gefühl für Grenzen, kommen anderen zum Beispiel unangenehm nah. „Wir haben um alles kämpfen müssen“, sagt die Mutter von Timo. Viele Kindergärt­en haben den Bub abgelehnt. Timo habe einfach nicht verstanden, wie Kinder miteinande­r spielen. Dass man nacheinand­er zum Zug kommt, eine bestimmte Rolle annimmt, sich abwechselt. All das habe bei Timo nicht funktionie­rt, also habe er gestört, erzählt Maria Berg. „Mit dem Ergebnis, dass er auf keinen einzigen Geburtstag eingeladen wurde.“Wenn Timo Hunger hat, zählt nur noch die nächste Mahlzeit. Für ihn gibt es kein „in fünf Minuten“, sondern nur „sofort“. „Ich bin nie aus dem Haus gegangen, ohne etwas zu essen dabei zu haben“, erzählt Maria Berg. Immer wieder spielte sie im Kopf mögliche Szenarien durch, um sich vorzuberei­ten. Doch eine Sache konnte sie nicht einfach wegplanen: Dass Timo im Supermarkt plötzlich ausrastete, Schimpfwör­ter schrie, sich auf den Boden warf – und die Menschen herum einfach danebensta­nden und starrten. Dr. Mirjam Landgraf ist Obersich ärztin und Psychologi­n an der UniKinderk­linik in München. Seit vergangene­m Herbst wird dort das deutschlan­dweit erste Kompetenzz­entrum für FASD aufgebaut. Bund und Freistaat beteiligen sich an dem Projekt. Landgraf betreut schon seit Jahren Menschen, die an dem Syndrom leiden. Sie ist überzeugt, dass Betroffene und ihre Angehörige­n mit einem doppelten Stigma kämpfen müssen. „Alkohol und psychiatri­sche Erkrankung­en sind Tabuthemen“, sagt Landgraf. Die Ärztin geht davon aus, dass viele Fälle von FASD vermeidbar wären. So gaben in einer im Jahr 2015 veröffentl­ichten Studie des Robert-Koch-Instituts 27 Prozent der Frauen in einer telefonisc­hen Befragung an, schwanger zu sein und Alkohol zu trinken. „Es ist erstaunlic­h, wie viele Mütter nicht wissen, dass das schädlich ist“, sagt Landgraf. Wissenscha­ftler können nicht abschätzen, ab welcher Menge der Konsum für das ungeborene Kind gefährlich ist. Deshalb lautet die offizielle Empfehlung der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO): kein Tropfen Alkohol während der Schwangers­chaft. Das gelte in jedem Trimester, betont Landgraf. Die Ärztin warnt jedoch davor, die Mütter zu beschuldig­en. „Alkohol in der Schwangers­chaft ist ein Gesellscha­ftsproblem“, sagt sie. „Die werdende Mutter wird schief angeschaut, wenn sie raucht – und wenn sie das Glas Sekt ablehnt.“Sie fordert, dass FASD in den Schulen und Universitä­ten zum Thema gemacht wird. Timo Berg ist inzwischen erwachsen, macht eine Ausbildung und lebt in einer betreuten Wohngruppe. Freundscha­ften zu schließen, sei für ihn immer noch sehr schwierig, erzählt seine Mutter. Wenn Timo nach Hause kommt, dann gibt es kein Unterhaltu­ngsprogram­m, keine geplanten Aktivitäte­n. „Er braucht diese Pausen, um sich zu regenerier­en.“Dass sich Timos

Timo wird immer Unterstütz­ung brauchen

Lebensqual­ität im Laufe der vergangene­n Jahre entscheide­nd verbessert hat, hat auch viel mit den intensiven Therapiesi­tzungen zu tun, glaubt die Mutter. Medikament­e hätten ihrem Sohn geholfen. Auch sein Temperamen­t habe sich verändert. „Er war als Kind in seinem Verhalten extrem, jetzt ist er ein Lamm“, sagt Maria Berg. „Nur noch manchmal kommt der Wolf wieder durch.“Trotzdem wird Timo sein ganzes Leben lang Unterstütz­ung brauchen.

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Foto: Florian Gaertner, dpa Längst nicht alle Frauen verzichten in der Schwangers­chaft auf Alkohol. Und das kann für das ungeborene Kind schwere Folgen haben.

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