Licht am Ende des Tunnels
Wird das Bahnprojekt Stuttgart 21 zu einem zweiten Berliner Flughafen? Es gab ja schon Verzögerungen und eine Kostenexplosion. Nun versichern die Bauleiter: Wir sind im Plan. Und die Gegner? Es gibt sie noch. Sie kämpfen aber auch mit eigenen Problemen
Stuttgart/Ulm Michael Pradel hat sich schon viel anhören müssen. Seit 2015 ist er als Bauabschnittsleiter dafür zuständig, dass aus dem alten Stuttgarter Hauptbahnhof ein modernes Areal wird, das als großer Verkehrsknotenpunkt funktioniert. Er muss Antworten liefern auf Fragen wie: Wird die Nord- und Südverbindung der durchfahrenden Züge funktionieren? Wird die 430 Meter lange Bahnsteighalle mit den acht Gleisen wie geplant realisiert? Werden die rechtlichen Vorgaben, allen voran der Brandschutz, eingehalten? Deutschlands größte Baustelle liefert ständig neue Fragen. Kein Wunder bei den vielen Kritikern, die das Projekt ablehnen, den massiven Kostensteigerungen, den bisherigen Verzögerungen. Michael Pradel jedenfalls hängen solche Fragen inzwischen zum Hals raus. Über Stuttgart 21 ist ja so viel geschrieben worden, dass es schwer ist, einen Überblick zu behalten. Über die Brücken der Baustellen gehen jedenfalls täglich tausende Fahrgäste, ohne zu wissen, was unter ihnen gerade passiert. Für viele ist das da unten einfach nur eine gigantische Grube – aus der in den vergangenen Jahren eine Million Kubikmeter Erde gehoben wurde. Wie eine offene Wunde klafft sie im Herzen der baden-württembergischen Landeshauptstadt, dort, wo sich einst ein Teil der Parkanlagen im Schlossgarten befand. Bauzäune und Absperrungen machen das Leben für Fußgänger zum Hindernislauf. Autofahrer stehen im Stau. Radfahrer suchen ein Durchkommen. So ist das wohl, wenn am Verkehr der Zukunft gearbeitet wird. Inzwischen ist immer konkreter zu sehen, wie der wohl umstrittenste Bahnhof Europas 2025 aussehen wird. Das ist jenes Jahr, in dem das Milliardenprojekt, zu dem auch die Neubaustrecke nach Ulm gehört, fertiggestellt sein soll. Von 2025 spricht zumindest die Bahn – Stand heute. Rund 400 Menschen arbeiten derzeit am neuen Hauptbahnhof. Eindrucksvoll sind die bis zu zwölf Meter hohen Kelchstützen. Jede von ihnen hat einen Durchmesser von 32 Metern. Verbaut werden bis zu 350 Tonnen Stahl und 685 Kubikmeter Beton – pro Exemplar. Oben wird sich dann die 16 Meter breite Glaskuppel befinden, die für Licht im unterirdischen Bahnhof sorgen soll. 28 Stützen werden am Ende das Dach tragen, bislang sind zwei betoniert. Später können Passanten auf dem Dach über angelegte Grünanlagen flanieren. Eine idyllische Vorstellung. Doch ob aus der Theorie jemals Praxis wird? Stuttgart 21 – das steht für Vorwürfe, Unwahrheiten, Verzögerungen, Kostensteigerungen und viel, viel Streit. Über die Jahre sind alle Argumente zur Genüge ausgetauscht worden. Michael Pradel kann sie deswegen auch nicht mehr hören. Erst kürzlich hat die ZDFComedysendung „Die Anstalt“wieder alle Vorurteile aufgegriffen. Die Neigung der Bahnsteige etwa. Zwischen dem nördlichen und südlichen Ende besteht ein Höhenunterschied von sechs Metern. Pradel ist fassungslos, dass die S21-Gegner dieses Argument immer noch bringen: „Die meisten Stadtbahnhaltestellen in Stuttgart haben einen größeren Neigungswinkel als wir. Aber bei uns ist es das große Drama.“Oder die Sache mit der Kapazität. Im derzeitigen Kopfbahnhof gibt es 16 Gleise, nach der Fertigstellung von Stuttgart 21 werden es noch acht sein. Milliarden für weniger Gleise? Worüber sich die ComedyDarsteller der „Anstalt“lustig machen, versteht Pradel nicht. Durch den unterirdischen Bahnhof könnten Züge schließlich durchfahren. Das bedeute: Abwicklung von mehr Zugverkehr, mehr umsteigefreie Verbindungen, vom Hauptbahnhof zum Flughafen in acht statt heute 27 Minuten. Jeder, der sich mit Stuttgart 21 beschäftigt, hat diesen Zahlenvergleich schon gehört. Ob er stimmt? Pradel ist jedenfalls ins Gelingen verliebt. „Wir werden den Zeitplan Stand heute einhalten.“Es gibt noch genügend Stuttgarter, die das nicht glauben wollen. Sie befürchten, dass S21 wie der Berliner Flughafen BER enden könnte. Der soll mit neun Jahren Verspätung 2020 den Betrieb aufnehmen – wenn es denn klappt – und ist mit 6,5 Milliarden Euro schon rund dreimal so teuer wie geplant. Auch in Stuttgart wurde der Termin der Fertigstellung mehrfach verschoben. Als der damalige Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) vor fast auf den Tag genau zehn Jahren den Finanzierungsvertrag unterschrieb, beinhaltete dieser Kosten in Höhe von gut drei Milliarden Euro. 2012 waren es 4,3 Milliarden, 2016 dann 6,5. Und heute geht die Deutsche Bahn von 8,2 Milliarden Euro aus. Die Bahn will Projektpartner – Land, Stadt, den Verband Region Stuttgart und die Flughafen Stuttgart GmbH – an den Mehrkosten beteiligen. Sie stützt ihre Klage auf eine Klausel im Finanzierungsvertrag. Dort heißt es, die Beteiligten nehmen Gespräche auf, sollten die vereinbarten Summen überschritten werden. Sprechen ja, zahlen nein – so sehen das hingegen die Beklagten. „Das Land ist sich mit den anderen verklagten Projektpartnern einig, dass die Ansprüche der Bahn nicht begründet sind. Es hat seine Zuwendungen von 930 Millionen Euro ausdrücklich freiwillig bezahlt“, sagt Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne). Daraus abzuleiten, das Land zahle bei jeder Kostensteigerung weiter, sei „auch angesichts der eindeutigen Aussagen des Landes, durch Parlaments- und Kabinettsbeschlüsse, nicht mehr als ein frommer Wunsch von Bund und Bahn, den wir zurückweisen“. Hermann und Stuttgart 21 – auch das ist eine lange Geschichte. Weil er als früherer Gegner des Projekts dieses jetzt umsetzen muss, bezeichnen ihn die alten Weggefährten als Verräter. Und auch die Befürworter treten ihm immer noch mit Misstrauen gegenüber. Hermann zieht sich auf eine pragmatische Haltung zurück. „Nach der Volksabstimmung steht die Landesregierung uneingeschränkt zur Beteiligung an S21. Ich will, dass der Bau möglichst störungsfrei und zügig vorangeht, und setze mich dafür ein, dass verkehrlich dort nachgebessert wird, wo das noch möglich ist“, sagt er. Die Gegner sind in Stuttgart immer noch sichtbar, wenn auch lange nicht mehr in der einstigen Dimension. Sie organisieren noch ihre Montagsproteste mit oft hunderten Teilnehmern. Und in der Fußgängerzone steht auch noch die Mahnwache, seit acht Jahren jetzt. Noch, sagt S21-Gegnerin Doris Zilger, kriegen sie die mit je zwei Freiwilligen gerade so hin. Tag und Nacht, 365 Tage im Jahr. „Wir sind 200 Leute auf der Liste, viele über 60 und 70“, erzählt sie. Das Problem sei: „Die Jüngeren konzentrieren sich nun eher auf die Gestaltung ihdie res Lebens.“Doris Zilger ist Realistin genug, wenn sie feststellt: „Die Idee, dass die ganzen Gruppen, die dagegen sind, noch einen Stopp hinkriegen, die ist, glaube ich, vorbei.“Dafür ist das Projekt schon zu weit fortgeschritten. Nicht nur in Stuttgart selbst, sondern auch auf der Neubaustrecke Ulm–Wendlingen. Die hat vieles, was Stuttgart 21 fehlt. Vor allem: Der fast 60 Kilometer lange Schienenstrang zwischen Neckar- und Donautal ist im Zeit- und Kostenplan, liegt in Teilen sogar unter den veranschlagten 3,7 Milliarden Euro, etwa am Albabstiegstunnel. „Wir sind früher fertig als geplant und liegen deutlich unter dem Kostenrahmen“, sagt Projektleiter Stefan Kielbassa, 59. 250 Millionen Euro hat die Bahn nach früheren Aussagen für diesen Abschnitt veranschlagt. Auch eine Eidechsenpopulation am Kienlesberg konnte Kielbassa nicht aufhalten. Mehrere dutzend Tiere wurden eingefangen und in einem Freigehege zwischengelagert. In einem neuen Biotop an alter Stelle seien sie freigelassen worden, wo sie nun Südlage und artgerechte Bedingungen zwischen Kalkfelsen vorfinden. Frühestens Ende 2022 wird wohl der erste Testzug mit 250 Sachen durch die Röhren rasen. Allerdings nicht bis Stuttgart durchkommen. Der neue Bahnhof soll ja erst 2025 betriebsbereit sein. Auf der exakt 56,6 Kilometer langen Neubaustrecke Ulm–Wendlingen sind nach Bahnangaben 92 Prozent der Tunnel fertig, auf der Reststrecke nach Stuttgart sind es nur 75 Prozent. Wäre der Albabstiegstunnel fürs breite Publikum geöffnet, würde er derzeit einen der ungewöhnlichsten Fußmärsche der Region ermöglichen. Los geht es bei Betonblock Nummer 473 am Ulmer Hauptbahnhof. Tunnelblick total, der Wind pfeift durch die Mega-Röhre. Das Auge sieht kein Licht am Ende des Tunnels, nur alle paar Meter leuchtet eine längs aufgehängte Baustellen-Neonröhre den Weg ins Nirgendwo. Die Schwellen und Gleise liegen schon bereit. In knapp zwei Monaten werde begonnen, die 120 Meter langen Eisenriesen zu verlegen, heißt es. Vorbei an 472 weiteren, je 12,5 Meter langen Banketten erreicht der Fußgänger nach außerordentlichen, aber irgendwann auch eintönigen 5,8 Kilometern durch die zehn Meter hohe Röhre Dornstadt. Dieser Tunnel ist, wenn man so will, von Südosten her das Eintrittstor in das gesamte Bahnprojekt. Für die Neuordnung des Bahnknotens Ulm zur Anbindung an das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz ist rund um den Hauptbahnhof so gut wie alles im Rohbau vollendet. Der Trog etwa, der aus dem Tunnel führt, ist gegossen. Die letzte Baustelle werde im November angegangen und hat als Ziel ein „Kreuzungsbauwerk“, das Schienen der Filstalstrecke über den neuen Trog führt. Danach ist Stefan Kielbassa mit seinem Projekt eigentlich durch. Aber er macht gleich weiter. Der Ingenieur verantwortet dann den bahntechnischen Ausbau der gesamten Neubaustrecke. Dazu gehört auch ein spezielles Dämpfsystem unter den Schienen, das verhindern soll, dass Bewohner des Ulmer Michelsbergs Erschütterungen durch Züge spüren. Aus Sicherheitsgründen ist der Albabstiegstunnel bereits notdürftig mit Neonröhren ausgeleuchtet. Im Endzustand soll eine durchgehende LED-Beleuchtung am Handlauf für besondere Lichteffekte sorgen. In Stuttgart wiederum ist Christoph Lienhart der Mann der Tunnel. 59 unterirdische Kilometer werden hier gegraben, 17 davon verantwortet der 40-jährige Tunnelbauer aus Österreich. Anfang 2022 will er fertig sein. Mit seinen mehr als 2000 Arbeitern kämpft er sich durchs Gestein – darunter auch durch Anhydrit, das bei der Berührung mit Wasser zu quellen beginnt. Erst vor wenigen Tagen gab es Probleme im Obertürkheimer Tunnel, als die Bahn ausgerechnet auf Wasser gestoßen ist. Es konnte jedoch in den Neckar abgeleitet werden. Wenigstens dieses Thema führte nicht zu einem Streit. Stuttgart 21 wäre ja nicht Stuttgart 21, würde es nicht permanent etwas geben, über das gestritten wird. Jüngstes Beispiel ist die Diskussion über die veraltete Stellwerksund Sicherungstechnik, die offenbar eingesetzt wird. Der Bund wolle keine zusätzlichen Mittel zur Verfügung stellen, um den Bahnknoten Stuttgart mit der modernsten Technik auszurüsten, hielt kürzlich der Ministerialdirektor im Stuttgarter Verkehrsministerium, Uwe Lahl, dem Bundesfinanzministerium in einem Brief vor. Hintergrund sei, dass der Bund die Digitalisierungsmittel zusammenstreiche. Aus dem Bundesverkehrsministerium wiederum ist zu hören, man sei irritiert über die Aussagen aus Stuttgart. Mal wieder.
Kürzlich schlugen mal wieder die Fernseh-Satiriker zu Wird da etwa veraltete Technik eingesetzt?