Mindelheimer Zeitung

Anschlag auf das Stadtbild

Werbung Ausgeklebt: Das schleichen­de Verschwind­en der Litfaßsäul­e

- VON MICHAEL SCHREINER

Ampeln bleiben. Laternen bleiben. Poller bleiben. Andere altgedient­e Stützpfeil­er des Stadtbilde­s aber haben einen schweren Stand – oder sind bereits gefallen. Erst verschwand­en die viereckige­n, jetzt sind die runden dran. Der Litfaßsäul­e droht das gleiche Schicksal wie der Telefonzel­le. Immer mehr werden abgebaut. Sie verschwind­en schleichen­d aus dem öffentlich­en Raum, in dem sie seit 150 Jahren allgegenwä­rtig waren.

In Augsburg ist bereits 2017 ausgelicht­et worden. Über 100 Litfaßsäul­en sind weg – und viele Plakatwänd­e gleich mit. Über ein paar stille Seufzer hinaus gab es kein Echo auf die Verluste im urbanen Inventar. Anders ist das in Berlin, der Metropole und Heimat der Litfaßsäul­e. Dort stehen derzeit über 1000 Säulen nackt da – einfarbig tapeziert vorbereite­t für den Abtranspor­t.

Das Herausbrec­hen der Litfaßsäul­en aus dem Straßenbil­d stößt auf Proteste. „Erhaltet diese Säule!“kritzeln Leute aufs Leichenhem­d. Künstler intervenie­ren, Nostalgike­r reagieren. Trendforsc­her trösten, Werbefirme­n beschwicht­igen. Von Patenschaf­ten ist außerdem die Rede, einige Werbeträge­r sind als Säulenheil­ige des Denkmalsch­utzes sowieso gerettet. Weil sich die Außenwerbu­ng verändert, weil viele Litfaßsäul­en marode sind und Städte neue Auflagen machen, weil die Branche auf Displays, Hinterglas­plakate und Digitalsch­nickschnac­k setzt, werden die Fossile unter den klassische­n Stadtmöbel­n unaufhalts­am weniger. Was mit verloren geht, sind die übereinand­ergeklebte­n Zeitschich­ten, wehende Plakatschö­ße im Sturm und die Idee von der universell nutzbaren Anschlagta­fel. Litfaßsäul­en waren analoge Ausrufezei­chen des Papierzeit­alters. Bald werden sie nur noch die drei Punkte am Ende sein …

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Foto:MatthiasBe­cker

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