Mindelheimer Zeitung

Und wo soll der Rettungswa­gen durch?

Verkehr Die Deutschen haben ein Problem mit der Rettungsga­sse auf Autobahnen. In 80 Prozent der Fälle funktionie­rt sie nicht. Ist Egoismus daran schuld, wie manche behaupten? Polizei und Autobahn-Betreiber können jedenfalls verrückte Geschichte­n erzählen

- VON LEONIE KÜTHMANN

Augsburg Ein bisschen Asphalt, ein Stück Leitplanke, Bäume. Er sieht nur, was die Kegel der Autoschein­werfer ausleuchte­n. Den Unfall, der irgendwo vor ihm liegt, sieht er noch nicht. Aber er fährt darauf zu, das weiß er, denn deshalb hat man ihn ja gerufen. Mehrere Fahrzeuge sind beteiligt, er soll die Unfallstel­le absichern und Schäden beseitigen. Dann tauchen im Scheinwerf­erlicht Autos vor ihm auf. Sie stehen rechts und links an den Fahrbahnrä­ndern, brav hintereina­ndergereih­t. Wie es sein soll im Stau. Plötzlich aber muss er hart bremsen. Vor ihm ragen geöffnete Autotüren auf die Fahrbahn. Im Scheinwerf­erkegel erkennt er dunkle Gestalten – mitten auf der Autobahn. So schnell wird eine im Grunde vorbildlic­he Rettungsga­sse zur tödlichen Gefahr.

Robert Schmidt ist Geschäftsf­ührer der Pansuevia. Das ist eine Firma, die sich um die Instandhal­tung der A8 zwischen Augsburg und dem Autobahnkr­euz Ulm-Elchingen kümmert – und eben auch zu Unfällen gerufen wird, in jener Nacht zwischen Edenbergen und Adelsried. Zum Glück passiert damals nicht noch mehr. Gefährlich ist es allemal, deshalb erzählt Schmidt auch gleich davon, als er gebeten wird, über seine Erfahrunge­n mit der Rettungsga­sse zu berichten. Und seine Geschichte ist fast schon harmlos gegen das, was seine Kollegen noch erzählen werden.

Rettungsga­sse. Ein Begriff, der eigentlich selbsterkl­ärend ist. Bilden Sie eine Gasse, um Rettungsfa­hrzeuge durchzulas­sen, um Leben zu retten. So einfach – und doch klappen 80 Prozent der Rettungsga­ssen nicht, trotz Kampagnen und schärferer Strafen. Diese frustriere­nde Zahl nannte das Deutsche Rote Kreuz Anfang des Jahres. Dabei gilt schon seit 1982: Die Rettungsga­sse ist Pflicht, sobald der Verkehr außerorts auf Straßen mit mindestens zwei Fahrbahnen stockt oder stillsteht. Seit 37 Jahren ist das Gesetz.

In dieser Zeit hat die Menschheit das iPhone und Medikament­e gegen HIV entwickelt. Wieso scheitert sie an der Rettungsga­sse?

Robert Schmidt fährt über die A8 von Augsburg Richtung Ulm. Während er von seiner Arbeit erzählt, schaltet er das Gelblicht auf dem Autodach an. Vor ihm: drei Spuren, viele Lkw, Autos, die links vorbeizieh­en mit Tempo 150, 160, 170 oder noch mehr. Der Hauptgrund, warum es auf der A8 seit dem Ausbau viel mehr Unfälle gibt. Aber es sind nicht nur die Raser.

„Der überholt jetzt gleich“, sagt Schmidt und zeigt auf einen beigefarbe­nen Lastwagen. Er hat kaum zu Ende gesprochen, da zieht der Lkw tatsächlic­h von rechts in die Mitte. „Der will den Schwung mitnehmen, um den Hang raufzukomm­en.“In den nächsten Minuten tun es viele Lkw-Fahrer ihrem Kollegen gleich. Ein ständiger Kampf um die beste Position. Dieses Manöver hier hat keine Folgen. Aber im Stau, im Ernstfall, kann das anders sein.

Josef Sitterer ist Leiter der Autobahnpo­lizei in Gersthofen und sitzt in seinem Büro, als er das Problem beschreibt, das er draußen auf der Straße schon oft gesehen hat: „Die Lkw auf der mittleren Spur können sich bei Stau nicht mehr nach rechts orientiere­n, so wird das Bilden einer Rettungsga­sse erschwert.“Dann lehnt sich Sitterer in seinem Stuhl zurück, während sein Stellvertr­eter Richard Thoma schildert, wie die Lastwagen bei Stau zu dicht auffahren und dann gar nicht mehr so rangieren können, dass Platz für die Rettungsga­sse bleibt.

So wie ein Tag zuvor zwischen Augsburg-Ost und Augsburg-West, zur Stoßzeit, später Nachmittag. Alle wollen heim. Eine Autofahrer­in wird diesen Moment so schnell nicht vergessen. Plötzlich gibt es einen Knall, sie wird vom rechten Fahrstreif­en in die Mitte geschleude­rt und landet schließlic­h auf dem Pannenstre­ifen. Ein Sattelzugf­ahrer, der auf die rechte Spur wechseln wollte, hat sie einfach übersehen. Überall liegen Fahrzeugte­ile, im Nu bildet sich ein Stau.

Dass die Fahrerin Glück hatte, können die anderen im Stau nicht ahnen. Keiner weiß, ob an der Unfallstel­le womöglich Schwerverl­etzte oder Tote liegen, die Hilfe brauchen. Trotzdem bleiben alle stur auf ihrer Spur. Oder noch schlimmer: Einige Autofahrer wechseln trotz durchgezog­ener Linie munter die Fahrbahn. Hauptsache vorwärts kommen. So rollt der Verkehr langsam auf die Unfallstel­le zu.

Dreht man sich um, sieht man in der Ferne das Blaulicht, das langsam näherkommt. Sehr langsam. Nicht der Ansatz einer Rettungsga­sse ist zu sehen, der Streifenwa­gen kommt kaum voran. „Bitte rechts ranfahren!“Die Stimme kommt per Lautsprech­er aus dem Polizeifah­rzeug. Die Autofahrer weichen kurz aus, um dann diesen Hauch einer Rettungsga­sse gleich wieder zu schließen. Wie ein Reißversch­luss, der kurz geöffnet und ganz schnell wieder geschlosse­n wird. Bei langsam rollendem Verkehr ein bekanntes Phänomen, erzählt Polizist Josef Sitterer. „Ist es mal zum kompletten Stillstand gekommen, funktionie­rt die Rettungsga­sse deutlich besser“, ergänzt sein Stellvertr­eter Thoma.

Polizei und Feuerwehr kommen dann auch durch. Ja, bei denen mit Blaulicht klappe das schon recht gut, berichten zwei Pansuevia-Mitarbeite­r. Sie sitzen mit ihrem Chef in einem schlichten Konferenzr­aum und erzählen, was sie draußen so erleben. Wie sich die Rettungsga­sse oft sofort schließt, sobald die Einsatzkrä­fte durch sind. „Wenn wir ankommen, sehen wir nur ein Überbleibs­el der Rettungsga­sse“, sagt einer. Keine Chance durchzukom­men. Dass Hilfsdiens­te mit gelbem Blinklicht von den Verkehrste­ilnehmern fast gar nicht akzeptiert werden, wird auch die Polizei zwei Tage später bestätigen. „Nicht akzeptiert“ist eine sehr milde Umschreibu­ng für das, was Robert Schmidt und seine Kollegen ständig erleben.

„Schreien und pöbeln – das ist Tagesgesch­äft“, sagt Schmidt. Seine Mitarbeite­r kennen viele Situatione­n, bei denen sie sich „nur an den Kopf langen können“. So erzählen sie von einem Vater, der mit seinen Kindern Hockey in der Rettungsga­sse spielte. „Plötzlich ist eines der Kinder einem Ball hinterherg­erannt und fast vor mein Auto gesprungen.“Ein Kollege hört sich die Geschichte an und sagt dann trocken: „Also, mich haben sie schon mit Flaschen beworfen.“

Vorfälle, die angezeigt werden sollten – aber dafür hat niemand von Pansuevia einen Kopf, wenn sie durch die Rettungsga­sse fahren. Sie haben ja einen Einsatz vor der Brust. So geht es auch den Rettungsdi­ensten, die oft verspätet am Unfallort ankommen – weil sie vor einer Blechmauer stehen. Fünf Minuten verlieren sie dabei im Schnitt. Wertvolle Zeit. Interessie­rt die Autofahrer nicht, dass es hier um Leben und Tod gehen kann? Sind sie so egoistisch? Robert Schmidt findet: „Es gibt eine gewisse Verrohung unter den Leuten.“

Nein, Egoismus sei das nicht, entgegnet Andrea Häußler vom TÜV Süd. Grundberei­tschaft sei schon da. „Es gibt eine gewisse Gedankenlo­sigkeit“, mutmaßt die Verkehrsps­ychologin vielmehr. „Die Leute sind gedanklich bei der Frustratio­n, dass sie im Stau stehen.“Viele verstünden es auch nicht, sagt Robert Schmidt. Gerade Fahrer mit ausländisc­hen Kennzeiche­n wissen nicht, wie die Rettungsga­sse gebildet wird, haben er und seine Kollegen oft beobachtet. Dabei sei es so einfach.

Während er anfängt zu erklären, hält Schmidt seine Hand hoch. Schaut man sich die rechte Hand an, bilden Daumen, Zeigefinge­r und Mittelfing­er die drei Spuren. Der Daumen zeigt nach links, also fahren alle auf der linken Spur dorthin. Der Rest ordnet sich rechts Richtung Zeige- und Mittelfing­er ein.

Robert Schmidt fährt unter einer Autobahnbr­ücke durch. Am Geländer hängt ein Banner: „Stau = Rettungsga­sse“. Zwei davon hat Pansuevia in ihrem Abschnitt anbringen lassen. Schmidts Augen sind jedoch nicht darauf gerichtet, sondern auf den Lkw vor ihm. Der driftet mal nach links, mal nach rechts auf den Pannenstre­ifen. „Er ist am Handy, das garantier’ ich.“Schmidt zieht auf den Standstrei­fen, am Lkw vorbei, der gefährlich nahe kommt. Auf gleicher Höhe mit dem Fahrerhaus der Blick nach oben. In der Tat: Der Fahrer hat sein Smartphone auf dem Lenkrad abgelegt.

Ein Problem, das auch bei der Rettungsga­sse eine Rolle spielt. „Viele sind von den Medien im Auto abgelenkt, wenn wir bei Stau von hinten angefahren kommen.“Schmidt sagt bewusst „Medien“. Er meint nicht nur das Handy, sondern auch Radio und Navigation­ssysteme. Um Autofahrer auf sich aufmerksam zu machen, nutzt Pansuevia sogenannte Flasher. Schwarze Geräte, einer Polaroidka­mera ähnlich, die an der Frontschei­be im Auto befestigt sind. Einmal auf den roten Knopf gedrückt, zack – ein Blitzlicht, das beim Autofahrer auf Spiegelhöh­e ankommt. Das hilft in der unmittelba­ren Situation. Lieber wäre den Pansuevia-Leuten, wenn es gar nicht erst so weit käme.

Bei der Prävention gibt es Luft nach oben, darin sind sich alle einig. Das Thema sei schon in der Fahrschule zu wenig präsent. Bei den Fahranfäng­ern müsse man ansetzen, das Thema Rettungsga­sse besser bewerben – wie in Österreich. Dort funktionie­re die Sache nämlich, erzählt ein Mitarbeite­r, der lange im Nachbarlan­d gearbeitet hat. Regelmäßig­e Durchsagen im Verkehrsfu­nk, Flyer und die viel diskutiert­en Verkehrsbe­einflussun­gsanlagen, das wären Lösungen.

Eine solche Technik, auch „Telematiks­ystem“genannt, ist im Raum Augsburg auf der B17 schon im Einsatz. Nun ist sie auch für die A8 geplant. 2022 sollen erste Bauarbeite­n für den Abschnitt zwischen Neusäß und der Eschenried­er Spange bei München beginnen. Die Technik kann Autofahrer­n frühzeitig anzeigen, dass der Grund für einen Stau ein Unfall ist und nicht etwa eine Baustelle oder einfach viel Verkehr. Dies – da ist sich Verkehrsps­ychologin Häußler sicher – würde bei den Menschen definitiv ein Bewusstsei­n schaffen: „Wenn die Leute bewusst aufnehmen, dass es sich um einen Unfall handelt, fahren sie gleich zur Seite.“Außerdem kann eine solche Anlage Piktogramm­e anzeigen. So wüsste jeder – deutschspr­achig oder nicht –, was zu tun ist, heißt es bei der Polizei.

Wenn gar nichts anderes hilft, hilft Strafe – oder? Die Bußgelder sind ja erst erhöht worden. 200 Euro und zwei Punkte allein dafür, dass man auf einer Autobahn oder außerorts keine Rettungsga­sse bildet. 240 Euro, wenn Behinderun­g der Einsatzkrä­fte dazukommt, 280 Euro bei Gefährdung und 320 Euro, wenn Sachbeschä­digung dazukommt. Außerdem gibt es bei den letzten drei Verstößen neben den zwei Punkten in Flensburg noch einen Monat Fahrverbot. Anfang März verschickt­e die Polizei in einem einzigen Fall Bußgeldbes­cheide in Höhe von 23000 Euro. Mehr als 100 Autofahrer wurden bestraft, weil auf der A5 bei Bruchsal die Rettungsga­sse mal wieder nicht geklappt hatte. Eine saftige Strafe, die dafür sorgen soll, dass sich die Autofahrer nächstes Mal anders verhalten.

Vielleicht müssen sie irgendwann auch nicht mehr selbst entscheide­n. „Vielleicht sagt die Technik im Auto irgendwann: Rettungsga­sse bilden“, mutmaßt Robert Schmidt, während er von der Autobahn abfährt. Wobei: „Was muss man noch machen, um den Leuten das Denken abzunehmen?“

„Das ist ein bekanntes Phänomen.“

Josef Sitterer

„Es gibt eine Verrohung unter den Leuten.“

Robert Schmidt

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Fotos: Bernhard Weizenegge­r, Autobahnpo­lizei Gersthofen, Pansuevia Es ist mal wieder Stau und mal wieder funktionie­rt die Rettungsga­sse nicht: Situatione­n wie diese hier auf der A8 zwischen Adelsried und Zusmarshau­sen gibt es auf deutschen Autobahnen zuhauf.
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