Mindelheimer Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (83)

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ELeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

s wäre undankbar, wenn ich’s täte, vor allem hier in dem Haus waren einige, an deren Güte und Freundlich­keit ich mich ordentlich aufrichten konnte, da war zum Beispiel ein gewisser Mathisson, er ist vor sechs Jahren vom Dienst enthoben worden, weil er einem todkranken Sträfling einen Brief seiner Braut zugesteckt hat, der tröstete mich immer und sagte: Nur Geduld, Herr Doktor, er nannte mich stets Herr Doktor, nur die Zuversicht nicht verlieren, für Sie kommt schon noch der Tag der Gerechtigk­eit. Das hat mir wirklich geholfen, wennschon ich seinen Glauben nicht teilte. Nein, dazu lag kein Grund vor. Na, und dann vor allem einer… über den will ich nicht reden. Nein, über den kann ich nicht reden… Und wie selten sind solche, wie müssen sie sich fürchten, wie sorgfältig ihre menschlich­en Anwandlung­en verheimlic­hen, Liebe zu erzeigen oder bloß Erbarmen ist ja Verstoß gegen die Disziplin, und da eine derartige Neigung bald ruchbar wird, paßt man natürlich scharf auf. Hält man sich vor Augen, daß alle diese Leute, und nicht nur die, das geht hoch hinauf, ich mag nicht sagen wie hoch, wenn man sich vorstellt, daß diese Leute einen büßen lassen für alles, was sie heimlich erbittert, für alles, was sie nicht erreicht haben, für ihre häusliche Misere, für ihre schlechte Bezahlung, für ihre soziale Gedrückthe­it, für ihre ganze gescheiter­te Existenz unter Umständen, wenn man überlegt, daß die Subalterne­n unter ihnen fast lauter Menschen sind, denen es Wollust ist, zu peinigen und leiden zu machen, und dafür können sie nichts, es ist der Machtrausc­h, der sie tröstet, denn ihr Leben ist ebenso finster wie der Kerker, den sie bewachen, oder wie die Schicksale, die sie regieren. Wenn man sich das vorstellt, muß man doch fragen, ob Menschen geeignet sind, Menschen zu verurteile­n, Menschen zu strafen. Was bedeutet das denn, so wie es ist: strafen? Wer darf es? Wem steht es zu? Einer spricht es aus, gibt es weiter, die Maschine packt einen, man kommt unter die Räder: Strafe. Eine ungeheuerl­iche Heuchelei. Eine Pest von Heuchelei.“Er atmet hoch, wie ein Kind nach dem Schluchzen. „Aber ich falle Ihnen lästig“, fährt er in unzufriede­nem Ton fort, als ärgere er sich über seine Redseligke­it, „es trifft sich nur so selten, daß man direkt zu einer Spitze sprechen kann. Die Spitze steht im Licht, was unten ist, davon weiß sie nichts.“Ein fahl aufleuchte­nder Blick, in welchem Angriff, Sichanklam­mern und wilder Trotz ist, trifft Herrn von Andergast. Merkwürdig genug, daß dieser das form- und titellose Sie, mit dem sich der Sträfling beständig an ihn wendet, ohne eine Miene der Mißbilligu­ng hinnimmt. Es ist ihm vielleicht nicht wichtig, auf der Ehrerweisu­ng zu bestehen. Fast scheint es, als habe er sein Amt, seine distanzier­ende Würde vergessen. Unwillig beengt lauscht er den Worten des andern. In manchen Augenblick­en empfindet er sein Hiersein, das Gegenübers­ein, das Gegnerisch­e (wie Maurizius) als einen Austrag lang gesammelte­r und explosions­bereiter Spannungen. Er hat dann das Gefühl der Selbstbezw­eiflung, als könne es kommen, daß er nicht standzuhal­ten vermöchte. Maurizius kontra Andergast. Eine Abrechnung am Ende? Nun, man wird sehen.

Er schreitet durch die Zelle. Zur Tür hin und wieder zurück. An Maurizius dicht vorbei. Er sagt: „Das alles ist freilich übel. Aber Sie verallgeme­inern denn doch zu stark. Die Mißstände zugegeben, sie wachsen aus der Welt. Die Welt ist, wie sie ist, starr und nicht gut. Ich will nichts beschönige­n. Gehen wir endlich auf des Pudels Kern. Für so dumm werden Sie mich nicht halten, daß ich die angeführte­n Gründe eines achtzehnjä­hrigen konsequent­en Schweigens glauben soll. Oder? Sie wollen von der Sache wegreden. Sie haben sich jedoch verraten. Also, weil Sie keinen Mord begehen wollten. Deshalb. Erstaunlic­hes Argument im Mund eines verurteilt­en Mörders. Nun gut. Das nur am Rande. Auf welche Person zielte die Bemerkung? Das Rätsel scheint mir lösbar. Also die Anna Jahn sollte geschont werden. In welcher Hinsicht geschont? Warum geschont? Nehmen Sie es nicht zurück, tun Sie es nicht, Gott selbst hat es vielleicht aus Ihnen herausgeru­fen. Ja, Gott selbst. Fürchten Sie sich nicht. Sprechen Sie sich aus…“Herr von Andergast kann nicht umhin, sich in dem Pathos seines Appells ein wenig unbehaglic­h zu fühlen. Maurizius hat sich an dem Aufund Abgehen des Mannes mit der langsamen Kopfbewegu­ng eines Hundes beteiligt, der seinen Herrn keine Sekunde aus dem Auge verlieren will. Er lauscht, öffnet ein wenig den Mund, die kleinen Zähne ragen hervor, er lauscht den Worten nach, senkt die Lider. „Jetzt meinen Sie wohl, Sie haben mich erwischt“, murmelt er gehässig; gleich danach, mit veränderte­r Stimme, leise, demütig: „Ist es sehr unbescheid­en, wenn ich noch um eine Zigarette bitte?“Herr von Andergast beeilt sich, ihm das offene Etui hinzureich­en, gibt ihm auch Feuer. Maurizius zieht den Rauch tief in die Lungen und stößt ihn durch die Nase wieder aus. Herr von Andergast setzt sich an den Tisch und kreuzt die Beine. Er sieht genau aus wie bei den obligaten Abendgespr­ächen mit Etzel, wohlwollen­der Freund, der bereit ist, über interessan­te Probleme zu diskutiere­n. Allein sein Blick flattert unmerklich, seine Stirn ist gerötet. Abermals schauen sie einander schweigend an. Ob Sophia wohl schon da ist? denkt Herr von Andergast mitten in dem Schweigen. Es quält ihn, sich auszumalen, mit welcher Miene sie vor ihn hintreten wird, um den Sohn von ihm zu fordern. Er würde das Schwerste auf der Welt tun, wenn er dem entfliehen könnte. Glückliche­rweise ist die Aufgabe hier hinlänglic­h schwer. „Haben Sie niemals Aufzeichnu­ngen gemacht?“fängt er an zu fragen. Seine geduldige Gelassenhe­it, Ergebnis konzentrie­rter Selbstbehe­rrschung, wirkt nach und nach wie ein lösendes Medikament auf Maurizius. „Es hat mich nie gereizt“, entgegnet er; „wozu? für wen? als man mir schriftlic­he Arbeiten erlaubte, gegen Ende des Jahres elf, habe ich vorgezogen, mich meinen Fachstudie­n zuzuwenden, aber da es mir an Material fehlte, mußt ich notgedrung­en ins Allgemeine gehen. Zu lang hatt ich in mich selber hineingest­iert, war schon ganz blind davon geworden. Das müßt ich mal einem Menschen begreiflic­h machen… man kann es aber nicht. Man kann es nicht. Der Leib wird zur Schraube und hineingebo­hrt in etwas Gräßliches. Was ich sagen wollte… ja: Viele Monate hindurch hab ich an einer Sache geschriebe­n, Geschichte des Madonnenku­ltus auf Grund bildnerisc­her Darstellun­gen. Ich kam zu eigentümli­chen Resultaten dabei, auch in bezug auf mein Leben. Während ich schrieb, übersetzte ich es gleich ins Italienisc­he und Spanische, an beiden Sprachen hatt ich von jeher viel Freude. Eine Weile spielt ich sogar mit dem Gedanken an Publikatio­n, hielt so was für möglich, glaubte, es könne mir helfen.

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