Mindelheimer Zeitung

„Ich hör nix!“

Justiz Wie ein fast tauber Mann ein Gericht zur Verzweiflu­ng treibt und warum der Prozess gegen ihn auf der Kippe steht

- VON MANFRED SCHWEIDLER

Würzburg Die Suche nach der Wahrheit kann mühsam sein. Hans Brückner, der Vorsitzend­e der 1. Strafkamme­r des Landgerich­ts Würzburg, hat viel erlebt in Jahrzehnte­n als Richter. Aber nun steht selbst er vor einer ungewöhnli­chen Situation: Der Angeklagte ist fast taub – und niemand hat das Gericht darauf vorbereite­t.

Bruno G. soll gefährlich sein, trotz seiner 71 Jahre: Die Anklage, die Oberstaats­anwalt Boris Raufeisen verliest, spricht vom grundlosen Würgen einer Nachbarin auf offener Straße, vom Schuss in den Rücken ihres Mannes drei Jahre später bei einem Feuerwehrf­est. Und sie erzählt vom Anzünden seines Bettes in einer Zelle im Würzburger Gefängnis, vom verzweifel­ten Abwehren jeder Löschversu­che, wobei neun Menschen zu Schaden kamen.

Für all das soll sich der 71-jährige Landwirt seit Montag vor Gericht verantwort­en. Dabei wirkt der alte Mann so harmlos, als könne er keiner Fliege etwas zuleide tun. Er trippelt – von zwei Beamten aus dem Gefängnis gebracht – in den Gerichtssa­al, muss mühsam seine rutschende Hose mit beiden Händen festhalten. Auf dem Kopf sieht man noch nicht völlig verheilte Brandwunde­n. Er versinkt auf der Anklageban­k in Schweigen, starrt vor sich hin. Auf Fragen in normaler Lautstärke rührt er sich gar nicht oder murmelt nur: „Ich hör nix!“Dann nestelt er wieder und wieder an seinem Hörgerät, ohne erkennbare Verbesseru­ng. Um überhaupt eine Reaktion zu ernten, muss ihm sein Verteidige­r Hanjo Schrepfer aus wenigen Zentimeter­n Entfernung ins Ohr schreien. G. antwortet „Ich versteh nix“und auf Nachfrage: „Ich weiß nicht, wo ich bin.“

So schnell gibt der Vorsitzend­e Hans Brückner nicht auf. Das Gericht rückt den Angeklagte­n näher heran, schreit ihn fast an, verwendet sogar die Lautsprech­eranlage. „Verstehen Sie mich jetzt?“Die Reaktion: „Kein Wort!“Die Anklage wird verlesen, ohne sichtbare Regung des Landwirts. Verteidige­r Schrepfer gibt eine Erklärung zum Vorwurf des versuchten Mordes und der Brandstift­ung ab: „Mein Mandant kann sich an die beiden Tage nicht erinnern.“

Nun würde in jedem normalen Prozess die Beweisaufn­ahme beginnen. Aber wie will der Angeklagte den Worten der Zeugen folgen? Etwa jenen seines Nachbarn, der seit dem Schuss in den Rücken querschnit­tsgelähmt im Rollstuhl sitzt und als Nebenkläge­r im Prozess seine Rechte vertritt? Das Gericht ist ratlos. Anwalt Schrepfer sagt, er habe den zuständige­n Arzt in der JVA bereits vor zwei Monaten auf die Verständig­ungsschwie­rigkeiten hingewiese­n. Aber erst vor einer Woche habe man sich um das Hörgerät gekümmert – offenbar ohne eine Verbesseru­ng zu erzielen. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Als die Richter zurück sind, erklärt der Vorsitzend­e: „Es bestehen Bedenken, die Hauptverha­ndlung durchzufüh­ren.“Die Beweisaufn­ahme wird vorerst abgesagt.

Möglicherw­eise muss das Gericht warten, ob ein Ohrenarzt oder Hörgeräte-Profi sagen kann, ob eine Verbesseru­ng der Situation möglich ist. Denkbar wäre, G. jedes Wort, das vor Gericht fällt, mit einem Computer lesbar vor Augen zu führen. Diskutiert wird auch, ob man eine Art Beisitzer neben ihn platziert, der Bruno G. jedes Wort ins Ohr schreit, das für den Prozess Bedeutung hätte. Am Freitag soll die Verhandlun­g mit dem Arzt im Zeugenstan­d fortgesetz­t werden. Wie der Prozess dann weitergehe, „steht in den Sternen“, sagt der Vorsitzend­e zum Angeklagte­n. „Ich verstehe kein Wort“, antwortet der.

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