Mindelheimer Zeitung

Wie zeitgemäß ist die neue Zeit?

Mit dem Umstellen der Uhren im Frühjahr und im Herbst soll nach dem Willen der EU bald Schluss sein. Das aber schafft mehr Probleme, als es löst

- VON DETLEF DREWES dr@augsburger-allgemeine.de

Wir können uns Zeit lassen. Denn bis die Fummelei an den Uhren endgültig aufhört, vergehen noch zwei Jahre. Die Mitgliedst­aaten der Europäisch­en Union sind sich einig, seit gestern auch das EU-Parlament: Erst 2021 soll die ständige Uhrenumste­llung beendet werden. Das klingt gut, sagt aber erst einmal gar nichts. Denn bis dahin müssen die Regierunge­n der Mitgliedsl­änder sich nicht nur mit ihren Bürgern, sondern auch untereinan­der einigen. Welche Zeit soll denn künftig gelten? Damit beginnt spätestens in einigen Monaten ein Streit, der uns noch lange erfreuen wird. Gutachten gegen Gutachten, Warnungen von Medizinern gegen Stellungna­hmen von Wirtschaft­sverbänden. Außerdem kann jeder seine eigenen Empfindung­en einbringen und auf Erfahrunge­n pochen – zum Beispiel, wenn am nächsten Sonntag, kurz nach Umstellung der Uhren auf die Sommerzeit, die Zahl der übermüdete­n Zeitgenoss­en überhandni­mmt. Tatsächlic­h hat sich die Europäisch­e Kommission, als sie das Aus für die Uhrenumste­llung beschloss, die eigentlich entscheide­nde Frage aber den Mitgliedst­aaten überließ, elegant aus dem nun aufbrechen­den Streit herausgezo­gen. Denn schon die ersten Meinungsbe­kundungen aus den Hauptstädt­en dokumentie­rten: Leicht wird ein Kompromiss auf weniger als die heutigen drei Zeitzonen nicht. Zumal die öffentlich­e Debatte sich gerade dann, wenn von einer dauerhafte­n Sommerzeit die Rede ist, häufig auf unrealisti­sch-romantisch­e Bilder stützt. Wer nun auch im Januar von langen und vor allem lauen Abenden träumt, irrt gewaltig. Es ist zwar abends ein wenig länger hell, dafür zahlen die Sommerzeit-Befürworte­r jedoch mit einem Vormittag, der bis weit nach Schul- und Arbeitsbeg­inn dunkel bleiben wird. Aber darf man eine so wichtige Frage wie die nach der geltenden Uhrzeit allein dem persönlich­en Empfinden überlassen? Den Stellungna­hmen der Wirtschaft­sverbände kann man entnehmen, dass ihnen weitgehend egal ist, ob Deutschlan­d die Sommer- oder die winterlich­e Normalzeit einführt. Die Bedenken der Mediziner beschränke­n sich überwiegen­d auf die negativen Auswirkung­en, die im Zuge der Umstellung der Uhren beobachtet wurden und die dann entfallen. Bleibt vielleicht noch der eigene Biorhythmu­s als Indiz dafür, dass der Mensch den Mittag eben dann als Mitte des Tages empfindet, wenn die Sonne im Zenit steht. Das wäre ein Hinweis auf eine ständige Normalzeit, die wir heute im Winter haben. In Brüssel und Straßburg bedauern immer mehr EU-Politiker, das Fass überhaupt geöffnet zu haben. Sie fürchten, dass die wichtigste Bedingung für eine gute Lösung am Ende zum eigentlich­en Stolperste­in werden könnte: Sind die 27 Regierunge­n wirklich in der Lage, sich über Ländergren­zen hinweg auf höchstens zwei (nach bisher drei) Zeitzonen zu verständig­en und diese ihren Bürgern auch zu vermitteln? Schon jetzt erscheint die Vorstellun­g eines Konsenses, den die Staatenlen­ker zu Hause hergestell­t haben, in Brüssel aber zugunsten der Gemeinscha­ft wieder aufgeben müssen, wie ein potenziell­er Zündstoff im Verhältnis zwischen Bevölkerun­g und EU. Und so steigt mit zunehmende­r Dauer der Diskussion die Zahl derer, die die gegenwärti­ge Lösung trotz aller Beschwerde­n für eben doch ökonomisch, psychologi­sch und gesellscha­ftlich ausgewogen halten. Ausschließ­en kann deshalb kaum jemand, dass am Ende der Zeit, die man sich nun gegeben hat, vor allem das Wiederentd­ecken einer guten Lösung steht, die alle Beteiligte­n längst gefunden haben: die Beibehaltu­ng der gegenwärti­gen Praxis. Weil eine neue Zeit eben doch nicht immer zeitgemäß ist.

Gutachten steht gegen Gutachten

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