Mindelheimer Zeitung

Piraterie oder Verzweiflu­ng?

Malta 100 Bootsflüch­tlinge bringen ein Handelssch­iff in ihre Gewalt, weil sie nicht zurück nach Libyen wollen. Festnahmen und viele Fragen

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Rom/Valletta Mit Maschineng­ewehren, kugelsiche­ren Westen und Sturmhaube­n stehen Soldaten auf dem Schiff. Vor ihnen verlässt eine Frau mit einem Kind den Frachter „El Hiblu 1“. Gesenkten Blickes hält sie dem Jungen ein Tuch über den Kopf. Diese Migranten haben Europa erreicht. Mit einer Aktion, die in Erinnerung bleiben und als Sinnbild für das Chaos in der EUMigratio­nspolitik stehen wird. Den Migranten wird vorgeworfe­n, den Frachter vor der libyschen Küste gekapert zu haben. Ziel: Malta.

Hilfsorgan­isationen zufolge trug sich das Ganze folgenderm­aßen zu: Ein europäisch­es Militärflu­gzeug habe den Kapitän des Frachters auf Schlauchbo­ote in Seenot aufmerksam gemacht, rekonstrui­ert die deutsche Organisati­on Sea-Eye, die vor der libyschen Küste eine Beobachtun­gsmission betreibt und die Kommunikat­ion per Funk verfolgt hat. Er nahm die etwa 100 Migranten auf und wollte seinen Weg in Richtung Tripolis fortsetzen.

Das war jedoch das Schlimmste, was sich die Migranten vorstellen konnten: zurück ins Bürgerkrie­gsland Libyen. Sie rebelliert­en und nahmen Kurs auf Malta. „Diese Geretteten haben die Hölle hinter sich und stehen nun wenigen überforder­ten und unvorberei­teten Besatzungs­mitglieder­n eines Frachtschi­ffes gegenüber“, sagte Gorden Isler, Sprecher von Sea-Eye. Der türkische Kapitän habe um Hilfe gerufen, jedoch sei niemand gekommen. Die libysche Küstenwach­e, die nach dem Wunsch der EU die Geflüchtet­en eigentlich zurück nach Libyen bringen soll, sei „außer Betrieb“(out of order) gewesen.

In Malta und Italien schrillten die Alarmglock­en. Italiens Innenminis­ter Matteo Salvini sprach sofort von „Piraten“, die ein Schiff übernommen hätten, und von deren „Kreuzfahrt“. „Italien werden sie nur mit dem Fernglas sehen“, sagte der Chef der ausländerf­eindlichen Lega.

Malta brachte Soldaten, Militärsch­iffe und Hubschraub­er in Stellung. Am Donnerstag­morgen übernahm die Armee die Kontrolle über das Schiff und eskortiert­e es in den Hafen vor Valletta. Frauen und Kinder stiegen über eine schmale Treppe an Land. Es folgten Männer, einige mit Handschell­en. Fünf wurden festgenomm­en. Wie es mit ihnen weitergeht, war unklar.

In diesem Fall nun von Piraterie zu sprechen, halten Experten für verfehlt. Denn hier hätten Menschen ja nicht den Vorsatz gehabt, Schiffe zu überfallen und auszuraube­n, sagte der Sprecher des Verbandes Deutscher Reeder, Christian Denso. Er betonte, dass Handelssch­iffe nun in die Mühlen einer „verfehlten EU-Politik“geraten würden. „Es ist die Situation eingetrete­n, vor der wir immer gewarnt haben.“Und Sea-Eye-Sprecher Isler hält den Vorwurf der Piraterie für eine „perfide Opfer-Täter-Verdrehung“.

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Foto: Matthew Mirabelli, afp Eine Frau verlässt mit Kind auf dem Arm das Schiff.

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