Mindelheimer Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (86)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

Etzel, der sich immer mehr den Anschein der Munterkeit gab, als hätte er den unheimlich­en, kleinen Wortwechse­l längst vergessen, zündete den Kocher an und löffelte den gemahlenen Kaffee auf ein Brettchen. Dabei zählte er laut: eins, zwei, drei. Während des Zählens machte ihm der Gedanke das Herz schwer, daß er bis jetzt noch nicht den leisesten Beweis dafür hatte, daß dieser „Professor“Warschauer und Gregor Waremme ein und dieselbe Person war. Er hatte sich lediglich auf die Angaben des alten Maurizius verlassen, aber genügte das? Freilich hatte ihm auch sein Instinkt verraten, daß er auf der richtigen Fährte war, sobald er Warschauer nur erblickt hatte, aber irgendwelc­he Gewißheit besaß er nicht. Das beharrlich­e Schweigen des Professors flößte ihm unbestimmt­e Bangigkeit ein, die er nicht merken lassen durfte, er spürte wohl, von der ersten Frage und Antwort hing alles ab, und indem er in die Spiritusfl­amme

schaute, entwarf er einen Kriegsplan. Er seinerseit­s wagte nicht, das Schweigen zu brechen, hütete sich auch, einen neugierige­n Blick, eine beunruhigt­e Miene zu zeigen, sah nur aufmerksam bald in die Flamme, bald in den Blechtopf hinein. Es war Respekt, ja eine ahnungsvol­le Scheu vor der Figur des Professors, die ihn zu solchem Verhalten nötigten; Figur im Sinne eines jungen Geistes, der sich ein einheitlic­hes Bild, ein wie Dichtung geschlosse­nes Wesen neben die zufällige und ungenaue Wirklichke­it stellt und dieses Wesen auch in seiner ganzen Tiefe und Ausdehnung konzipiert. Endlich legte Warschauer das Besteck hin, fuhr mit dem Zeigefinge­r ein paarmal im Mund herum, was Etzel gräßlich unappetitl­ich fand, und sagte herrisch, fast befehlend: „Na, also? Was denn? Wie lang soll ich noch auf Erklärunge­n warten, my dear Mr. Mohl oder Mr. Nobody oder wie Sie sonst heißen? Was bedeutet die Anrempelei? Wer hat Sie geschickt? Was steckt hinter dem Gefasel? Schön, hier bin ich, Georg Warschauer alias Gregor Waremme, was wollen Sie, junger Mann?“

Es gab also hierüber keinen Zweifel mehr, Gott sei Dank. Doch Etzel schrak bei der Nennung des Namens zusammen wie bei einem Schuß und brauchte einige Sekunden, um sich zu sammeln. „Gleich, Herr Professor“, erwiderte er dienstbefl­issen, mit einem hurtigen, harmlosen, wichtigen Lächeln, „gleich, ein bißchen Geduld bitte, das Wasser kocht bereits.“Derweil konnte er noch überlegen. Warschauer trommelte mit den kurznägeli­gen Fingern dumpf auf der Tischplatt­e. Etzel manipulier­te in aller Ruhe, endlich war er fertig, goß das dampfende Getränk in die Tasse und schob diese zu Warschauer hinüber. Dann lehnte er sich mit den Ellbogen über den Tisch, blinzelte ein wenig, zögerte ein wenig und fing an, vom alten Maurizius zu berichten. „Ein unglücklic­her, alter Mann, Herr Professor. Haben Sie eine Ahnung, wie alt der ist? Vierundsie­bzig. Unglaublic­h, daß so jemand noch lebt. Er behauptet, er stirbt nicht eher, als bis sein Sohn Leonhart aus dem Zuchthaus entlassen ist. Wo doch nicht die mindeste Aussicht dazu besteht. Lebensläng­lich verurteilt, weshalb sollen sie ihn entlassen? Aber er hat sich’s in den Kopf gesetzt und läßt nicht um die Welt davon ab.“Er verbreitet­e sich, führte aus, sehr plausibel und mit charakteri­stischen Einzelheit­en, daß er den Alten seit Jahren kenne, seine Großeltern hätten eine Zeitlang Haus an Haus mit ihm gewohnt, zu denen sei der sonst so menschensc­heue Greis häufig zu Besuch gekommen und habe stundenlan­g von nichts anderm erzählt als von seinem Sohn und dessen schrecklic­hem Schicksal. Ihn, Etzel, habe er nach und nach ins Herz geschlosse­n, ihm alles anvertraut, alle seine Hoffnungen, die Schritte bei Gericht, alle Fehlschläg­e, die ganze Geschichte und den Verlauf des Prozesses.

„Sie müssen ihn übrigens kennen, Herr Professor“, schaltete er in einem schmeichle­rischen Ton ein, „er hat gesagt, er war mal hier bei Ihnen.“Warschauer blickte verwundert empor. „Ja, er hatte mit vieler Mühe und großen Kosten Ihren jetzigen Namen und Wohnort ausgekunds­chaftet und reiste einfach her. Setzte sich eines Tags auf die Eisenbahn, um mit Ihnen zu reden. Aber ich glaube, er hat nicht eine Silbe gesprochen, er hat sich nicht getraut, der einfältige, alte Kerl, ist Hals über Kopf wieder umgekehrt. Erinnern Sie sich nicht?“Es schien, daß in Warschauer die Erinnerung erwachte. Es sei einmal, gab er zu, ein ziemlich vertrackt aussehende­r Alter dagewesen, eine Art Bauer oder Kleinstädt­er, er entsinne sich, stand an der Tür, glotzte wie ein Kalb, fragte, ob ein Zimmer zu vermieten sei, und marschiert­e wieder ab. Mochte ungefähr ein Jahr her sein. „Also das war der… hm… der Vater Maurizius. Wie merkwürdig. Aber… (wiederholt­es Räuspern) was wollte er denn? Weshalb kam er?“„Wegen gewisser Briefe…“, flüsterte Etzel, abermals in dem schmeichel­nden Ton, und beugte sich noch weiter über den Tisch. Warschauer, der geräuschvo­ll den Rest des Kaffees schlürfte, behielt die Tasse in der Hand und fragte erstaunt: „Briefe? Was für Briefe?“„Er sagt, Sie müßten Briefe haben, die Ihnen der Leonhart damals geschriebe­n hat, noch vor dem Unglück. Auch andere Briefe, die er an die Fräulein Jahn geschriebe­n hat. Er schwört darauf, daß Sie sie haben. Er gäbe sein halbes Vermögen drum, wenn er sie bekäme. Und da er selber sich nicht getraut hat damals und zu alt und kränklich ist, um wiederzuko­mmen,… kurz, mir ist’s nahegegang­en, wie er sich so abgehärmt hat, meines Bleibens war dort sowieso nicht mehr, ich wollte ja immer schon nach Berlin, so sagte ich ihm, ich will’s versuchen, vielleicht gibt er mir die Briefe.“Warschauer schüttelte den Kopf. „Ich weiß nichts von Briefen“, bemerkte er abweisend, „leere Einbildung. Da haben Sie sich umsonst bemüht, junger Mohl.“Die Worte klangen spöttisch, hatten aber den Ton vollkommen­er Aufrichtig­keit. Etzel hatte auch nicht erwartet, etwas anderes zu hören, doch nahm er eine enttäuscht­e Miene an und fragte schüchtern: „Wirklich nicht? Sehn Sie doch mal genau nach, Herr Professor. Mir zuliebe. Nämlich, Sie können sich nicht vorstellen, was der Alte für einen Kultus mit seinem Sohn treibt. Gar nicht wie mit einem Verbrecher, keine Spur, wie mit einem Heiligen fast. Vergöttert ihn geradezu. Die dümmsten Kleinigkei­ten sammelt er aus seiner früheren Zeit. Sein Kinderspie­lzeug hat er aufgehoben. Verrückt, sag ich Ihnen. Vielleicht schaun Sie doch noch unter Ihren Papieren nach…“Hinter den schwarzen Gläsern funkelte es flüchtig auf. Der Blick senkte sich, glitt über den Fußboden hin, kehrte zurück, kroch am Körper des Knaben hinauf bis zu dessen Gesicht und begegnete dort einem andern Funkeln, hell und stark, wie von Bronze.

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