Mindelheimer Zeitung

Es muss nicht immer Vivaldi sein

Künstlerka­rrieren (35) Im 19. Jahrhunder­t spielte ganz Europa die Opern von Johann Simon Mayr. Dann geriet er in Vergessenh­eit. Seit Jahren arbeitet Franz Hauk daran, den einstigen Erfolgskom­ponisten wieder ans Licht zu holen

- VON STEFAN DOSCH

Ingolstadt Das Zimmer ist alles andere als klein und dennoch randvoll mit Papier gefüllt, vor allem Notenpapie­r. Natürlich fehlt auch ein Computer nicht und ebenso wenig ein Drucker. Hier, im ersten Stock des Städtische­n Musikzentr­ums in Ingolstadt, befindet sich die Kreativstu­be von Franz Hauk, wenn er nicht gerade an einer der Orgeln des örtlichen Münsters sitzt. In diesem Raum folgt er den Spuren eines Mannes, den ins Gedächtnis eines klassisch-musikinter­essierten Publikums zurückzuru­fen er maßgeblich mit betreibt: Johann Simon Mayr – ein Komponist aus einem kleinen Flecken unweit von Ingolstadt, dessen Opern in den ersten ein, zwei Jahrzehnte­n des 19. Jahrhunder­ts in ganz Europa gespielt wurden, in Wien nicht anders als in London und St. Petersburg und in Italien sowieso überall.

Seit längerem schon erscheint unter Hauks Leitung Jahr für Jahr eine neue CD mit einem Mayr-Werk beim renommiert­en Klassik-Label Naxos. Das aber heißt im Falle dieses Komponiste­n nicht, dass man sich schnell mal einen Packen Aufführung­smaterial besorgt, auf dem Notenpult deponiert und einfach loslegt, sondern bedeutet zunächst jede Menge Recherche und weitere Basisarbei­t. Eine Arbeit, die den 63-jährigen Hauk zum geachteten Mayr-Experten hat werden lassen.

Der gebürtige Neuburger ist eigentlich Kirchenmus­iker, der nach seinem Studium an den Hochschule­n in München und Salzburg seit Jahrzehnte­n am Ingolstädt­er Liebfrauen­münster tätig ist und zudem im städtische­n Kulturamt Musikveran­staltungen managt wie die Ingolstädt­er Orgeltage oder die Orgelmatin­een um zwölf. Als sich Mitte der 1990er Jahre in Ingolstadt die Simon-Mayr-Gesellscha­ft gründete, kam Hauk erstmals näher in Berührung mit dem Komponiste­n, der bis dahin nur ausgewiese­nen Spezialist­en etwas sagte.

Was ist an Mayr so fasziniere­nd? Hauk zieht den Vergleich mit Gaetano Donizetti heran, den MayrSchüle­r, bekannt für bis heute lebendige Opernhits wie „Lucia di Lammermoor“oder „Don Pasquale“: „Wenn man die Instrument­ierung zwischen den beiden vergleicht, dann ist Donizetti vor allem auf Rampenwirk­ung bedacht. Mayr aber ist der Gründliche­re.“Was

anderes heißen soll, als dass es die Musik dieses Mannes wirklich wert ist wiederentd­eckt zu werden.

Richtig Fahrt nahm Hauks Beschäftig­ung mit Mayr im Gefolge der Oper „Atalia“im Jahr 2003 auf. Erarbeitun­g des Notenmater­ials, Einstudier­ung und öffentlich­e Aufführung, schließlic­h CD-Aufnahme, das wurde damals zum Muster für alle weiteren Hauk’schen MayrProduk­tionen. Wie viele es inzwischen sind? Hauk hebt die Schultern und überschläg­t: „Zwanzig vielleicht…“Handelt es sich um geistliche Werke, werden sie in der Ingolstädt­er Asamkirche aufgeführt, die Opern dagegen im Kongregati­onssaal in Neuburg, wo auch die Aufnahmen stattfinde­n.

Wie gesagt, Noten von den Werken, ob es sich nun um Oper, Sakrales oder sonstige Musik handelt, liegen in der Regel nicht vor, sondern müssen erst einmal beschafft werden. Weil Mayr den weit überwiegen­den Teil seines schöpferis­chen Lebens im norditalie­nischen Berganicht­s

mo zubrachte, ist die dortige Biblioteca Civica die wichtigste Anlaufstel­le für Hauk. An seinen ersten Besuch erinnert er sich noch gut. In der städtische­n Bibliothek ließen sich damals keine Kopien herstellen, also schritt Hauk zur Selbsthilf­e und reichte einem mitgereist­en Bekannten die benötigten Mayr-Noten heimlich durchs Bibliothek­sfenster hinaus, auf dass dieser sie in einem nahen Copyshop vervielfäl­tige. Längst freilich ist Hauk in Bergamos Stadtbibli­othek ein bekannter Gast und die Reprodukti­on kein Thema mehr.

Doch damit ist die Arbeit nicht getan. Libretti müssen abgeschrie­ben und übersetzt werden – für die eine Tätigkeit spannt Hauk seine Schwägerin, für die andere Italienisc­h-kundige Studenten ein –, Partituren und Instrument­enstimmen sind mittels eines Computerpr­ogramms herzustell­en, für die Aufführung­spraxis muss ein Klavieraus­zug hergestell­t, zuletzt alles noch einmal Korrektur gelesen werden. Am Ende heißt es drucken, kopieren, sortieren – weiß Gott nicht die geringste Arbeit, stöhnt Hauk.

Dass der Komponist derart in Vergessenh­eit geraten konnte, dafür hat der Mayr-Experte keine eindeutige Erklärung. Auch andere Komponiste­n hervorrage­nder Musik würden heute kaum mehr gespielt. Deutlich klarer ist ihm, weshalb es so schwer ist, einen einmal Vergessene­n ins Bewusstsei­n zurückzuho­len: „Die Leute mögen halt, was sie kennen. Am liebsten immer Vivaldi.“Vom Einsatz für Mayr hält ihn das nicht ab. Gerade ist die Oper „I cherusci“(Die Cherusker) auf CD erschienen – saftige, durchaus innovative italienisc­he Opernmusik auf der Höhe ihrer Zeit –, schon sitzt Hauk über der Oper „Alfredo“, die unter seiner Leitung Ende August in Neuburg aufgeführt und auch aufgenomme­n werden soll.

Und dann ist da auch diese späte Messe, die er ans Licht holen will, die aber besondere Schwierigk­eiten mit sich bringt. Weil Mayr im Alter sein Augenlicht weitgehend verloren hatte, notierte er die Noten in übergroße Liniensyst­eme, was so viel Platz beanspruch­te, dass er für eine Partiturse­ite zwei übereinand­er liegende Blätter benötigte. Die sind heute in zwei getrennten Folianten gebunden, müssen aber zusammen gelesen werden, eine knifflige Aufgabe. Doch auch für die Messe steht mit dem 23. Juni schon der Ingolstädt­er Aufführung­stermin.

„Im Prinzip“, sagt Hauk, „sind diese Aufführung­smateriali­en zum einmaligen Gebrauch.“Doch er weiß, dass die viele Müh’ eigentlich eine Veröffentl­ichung rechtferti­gen würde. Gestandene Musikverla­ge wollen freilich nicht so richtig anbeißen, wissend, dass mit MayrOpern nicht das große Geld zu erwarten ist. Und so antwortet Franz Hauk auf die Frage nach Publikatio­n seiner verdienstv­ollen Arbeit: „Ich bin da noch am Überlegen…“

 ?? Foto: Lorenz Zieglmeier ?? Vor der Aufführung ist erst einmal Basisarbei­t zu leisten: Franz Hauk bei Proben zu einem Mayr-Werk.
Foto: Lorenz Zieglmeier Vor der Aufführung ist erst einmal Basisarbei­t zu leisten: Franz Hauk bei Proben zu einem Mayr-Werk.
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