Mindelheimer Zeitung

Die Grünen können es mit allen

Ihre Bereitscha­ft zum Wandel hat die einstige Anti-Parteien-Partei nach vier Jahrzehnte­n auf den Gipfel ihrer Popularitä­t geführt. Kann sie den Erfolg halten?

- VON BERNHARD JUNGINGER bju@augsburger-allgemeine.de

Mitregiere­n. Wo immer es nur geht. Statt immer nur dagegen sein: Die vor fast 40 Jahren als Anti-Parteien-Partei gestartete­n Grünen wollen nicht mehr das Häuflein Aufrechter sein, das in der Nische die reine Lehre predigt und deshalb dort versauert. Sondern eine für einen möglichst breiten Querschnit­t der Bürger wählbare politische Kraft, offen für die Zusammenar­beit mit allen Parteien außer der AfD.

Lieber in wechselnde­n Koalitione­n langsam verändern als auf Dauer an den eigenen Ansprüchen scheitern – in den Debatten um das neue Grundsatzp­rogramm wird klar, wie die Grünen ihre künftige Rolle sehen. „Bündnispar­tei“wollen sie sein, die Bezeichnun­g Volksparte­i scheut die Spitze um Robert Habeck und Annalena Baerbock wie der Teufel das Weihwasser.

Volksparte­i, das klingt nach Krise, das klingt vor allem nach SPD. An der die Grünen in vielen Umfragen inzwischen locker vorbeizieh­en.

Bemerkensw­ert bei diesem politische­n Überholvor­gang: Viele Sozialdemo­kraten glauben ja, dass die Misere ihrer Partei daran liegt, dass sie inhaltlich zu beliebig geworden ist, sich zu wenig um ihre klassische Klientel gekümmert und zu viel mitregiert hat. Bei den Grünen dagegen gilt genau das als Erfolgsrez­ept. Sie haben sich immer stärker für neue Wählerschi­chten geöffnet. Aus dem alternativ­en Milieu sind sie weit auch in wertkonser­vative und bildungsbü­rgerliche Kreise hinein gerückt.

Während Teile der SPD im Regieren, wenn es nicht unter eigener Federführu­ng ist, ein gefährlich­es Übel sehen, zeigen die Grünen keinerlei Scheu vor der Macht. Sie sind an neun Landesregi­erungen beteiligt, stellen in Baden-Württember­g den Ministerpr­äsidenten, mit der CDU als Juniorpart­ner. Darüber hinaus gibt es die buntesten Kombinatio­nen: Ob Schwarz-Grün in Hessen, Rot-Grün in Bremen und Hamburg, Rot-Rot-Grün in Berlin und Thüringen oder die Ampel-, Jamaika- und Kenia-Koalitione­n in Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt. Die Grünen können es mit allen.

Schwächelt die SPD, lange Jahre natürliche­r Bündnispar­tner, wird die Union umarmt. Es ist bezeichnen­d, dass eine Jamaika-Koalition

Die Lust am Regieren unterschei­det sie von der SPD

im Bund nicht an den Grünen, sondern der FDP gescheiter­t ist.

Möglich geworden ist der gewaltige Erfolg der Grünen durch eine große Bereitscha­ft zum Wandel. Ihr Ur-Anliegen, den Schutz der Umwelt, hat die Partei nicht aufgegeben. Sie verfolgt es aber auf eine ganz andere, pragmatisc­here und optimistis­chere Art. Die Grünen von heute verlangen ihren Anhängern kein ökologisch mustergült­iges Verhalten mehr ab. Nicht der Einzelne soll durch Verzicht die Welt retten, der Staat und die Wirtschaft sollen es tun. Von Verbotsdeb­atten lassen die Grünen die Finger, seit sie sich selbige mit der Forderung nach einem fleischfre­ien „Veggie Day“in Kantinen verbrannt haben. Als der Abgeordnet­e Dieter Janecek kürzlich laut über die Einschränk­ung von Flugreisen zum Schutz des Klimas nachdachte, kam Gegenwind auch aus den eigenen Reihen.

Dass der sterbende Wald, der vergiftete Rhein und der drohende Strahlento­d nicht mehr als Wahlkampfs­chlager taugen, liegt auch daran, dass grüner Druck zu schärferen Umweltgese­tzen und Atomaussti­eg führten. Weiterentw­ickelt haben sich die Grünen auch, wenn sie nun anerkennen, dass Polizei und Bundeswehr vielleicht doch nötig sind, Zuwanderun­g auch Ordnung braucht. Inhaltlich flexibel, offen in alle Richtungen, keine Scheu vor dem Regieren – das ist die Zukunftsfo­rmel der Grünen. Sie wollen alles anders machen als die SPD – hört sich nach einem erfolgvers­prechenden Plan an.

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