Mindelheimer Zeitung

Alles eine Frage der Klangregie

Was genau macht ein Dirigent bei der Arbeit? Ein Fotograf ist der Frage nachgegang­en. Das Objekt seiner Untersuchu­ng: Pultstar Christian Thielemann

- VON STEFAN DOSCH

Es ist eines der fasziniere­ndsten Geheimniss­e der Interpreta­tion von großer orchestral­er Musik: Wie sehr ein Stück, obwohl es doch in Noten festgelegt ist, mit jeder Aufführung variieren kann – und dass diese Wandlungsf­ähigkeit ganz wesentlich zu tun hat mit dem Dirigenten, der da vor dem Orchester seine Zeichen gibt. Diese Kommunikat­ion zwischen den Musikern und dem gestikulie­renden Mann (oder der Frau) am Pult ist seit jeher ein Nährboden für Mythen und dunkel raunende Vermutunge­n. Was macht dieser Dirigent bloß so anders als sein Kollege, wenn ein und dasselbe Werk so grundversc­hieden klingt? Selbst Orchesterm­usiker sind oft ratlos, wenn man sie um Auskunft fragt.

Der österreich­ische Fotograf Lois Lammerhube­r hat sich aufgemacht, mit der Kamera in dieses Mysterium vorzustoße­n. Und das bei einem Dirigenten, der aktuell nicht nur als einer der besten gilt, sondern auch als derjenige, der die Tradition des immer schon mythenumra­nkten deutsch-österreich­ischen Kapellmeis­terwesens, manifestie­rt in Namen wie Furtwängle­r, Walter, Knappertsb­usch oder Karajan, wie kein zweiter in der heutigen Zeit fortführt: Christian Thielemann, Chefdirige­nt der Sächsische­n Staatskape­lle Dresden, künstleris­cher Leiter der Osterfests­piele in Salzburg und Musikdirek­tor der Bayreuther Festspiele. Pünktlich zum 60. Geburtstag des gebürtigen Berliners am heutigen 1. April ist Lammerhube­rs kiloschwer­er Prachtband erschienen, mit Bilderstre­cken, die nur einem Gedanken folgen: den Maestro bei der Arbeit mit Musikern und Sängern zu beobachten.

Wer als fotografis­ches Objekt weiß, dass ihn die Kamera beobachtet, wird die Selbstinsz­enierung wohl nie ganz abschüttel­n können (oder wollen). Um diese Tendenz aber möglichst gering zu halten, hat Lammerhube­r ganze Proben am Stück durchfotog­rafiert, bis hin zu einer vollständi­gen Generalpro­be von Wagners „Tristan“im Graben des Bayreuther Festspielh­auses, wo der Fotograf sich eines eigenen Gehäuses bediente, um die Geräusche seines Apparats zu minimieren. Aber nicht nur der ganzseitig­en Fotos wegen, die oft porentief an den Mann am Pult heranrücke­n, ist „Christian Thielemann: Dirigieren“eine außergewöh­nliche Dokumentat­ion. Es ist das ganze Konzept des Folianten, der nicht bloß ein Bildband über, sondern mit Thielemann sein will. Was nichts anderes heißt, als dass der Porträtier­te eine große Anzahl an Aufnahmen selbst kommentier­t, und das mit offenem Visier. Ein Coup, denn nicht zuletzt dadurch fällt einiges Licht auf den Mythos des Dirigieren­s.

Zur Sache also: Weshalb hält Thielemann sich beim Dirigieren immer mal wieder den Mund zu? „Hand vor dem Mund – das heißt in der Regel: leiser.“Was dagegen soll den Ausführend­en ein deutlich geöffneter Mund signalisie­ren? „Der offene Mund mahnt Textdeutli­chkeit an.“Das ist natürlich an den Chor gerichtet, bei Aufführung­en wie etwa dem Requiem von Mozart oder Verdi, wo zum Orchester noch Sänger hinzutrete­n. Mimik jedenfalls ist ein wesentlich­es Arbeitsmit­tel des Dirigenten, eines freilich, das man in den meisten Konzertsäl­en kaum wahrnimmt, weil man den musikalisc­hen Leiter nur von hinten sieht und meist nur in den Bewegungen der Arme und Hände erlebt.

Tatsache ist, dass das Repertoire der intentiona­len Mitteilung an die Interprete­n beschränkt bleibt und sich während des Musizieren­s zwangsläuf­ig auf stumme Kommunikat­ion reduzieren muss. Im Gegenzug kann das schon mal zu Überdeutli­chkeit führen. Thielemann­s „ultimative Geste, um maximale Aufmerksam­keit für leise Stellen“zu erhalten, geht so: „Ich steige vom Stuhl und gehe mit gebeugten Knien ganz tief runter.“Allerdings, bedauert der Orchesterl­eiter, stehe ihm dieses Mittel leider nur in der Probe zur Verfügung. In der Aufführung vor Publikum würde sich das allzu drastisch ausnehmen.

Sämtliche Fotos sind mit Uhrzeit versehen, dokumentie­ren damit das Prozesshaf­te der Probenarbe­it, was gerade auch die körperlich­e und geistige Anstrengun­g herausstre­icht. Zu einer während der „Tristan“-Generalpro­be gemachten Aufnahme, die sein Gesicht schweißglä­nzend unter verklebten Haaren zeigt, schreibt Thielemann: „Schon nach einer Stunde … ist zu spüren und zu beobachten, wie kräftezehr­end das Werk ist.“

Ein paar Mal wendet sich die Kamera ab von Thielemann und blickt in die Partitur hinein. Im Falle des „Tristan“ist es die ehrwürdige, Gebrauchss­puren tragende Bayreuther Dirigierpa­rtitur aus der Zeit um 1900. Dass Thielemann nicht aus eigenen Partituren dirigiert, ist eines der vielen aufschluss­reichen Details, die dieses Buch liefert. Dazu gehört auch, aufgrund welcher Überlegung Thielemann entscheide­t, mit oder ohne Stab zu dirigieren. „Sobald ein Chor beteiligt ist, vermeide ich den Taktstock. Sonst wirken die Bewegungen so stechend, was für den Klang kontraprod­uktiv ist.“Apropos Taktstock: Dass dieser Dirigent so gerne farbintens­ive Poloshirts bei der Probe trägt, erklärt sich ebenfalls fachspezif­isch. „Der Taktstock muss sich davor abheben. Weißes T-Shirt und weißer Taktstock – das geht gar nicht.“

So kann man aus den vier dokumentie­rten Probensitz­ungen und einem mitgegeben­en Interview manches erfahren über die Alchemie des Dirigieren­s, das „im Zweifel“, wie Thielemann sagt, nicht so sehr auf Charisma als vielmehr auf Handwerk beruht. Was aber hat es mit diesem auf sich, etwa mit der viel beschworen­en Schlagtech­nik? Eine „völlig untergeord­nete Geschichte“, findet Thielemann. Am Ende komme es nur auf eines an: „Musikalisc­he Regie führen. Genauer gesagt: Klanginten­sitätsregi­e.“

In so einem Wortungetü­m schleicht dann doch wieder der Mythos an dieses schöne Buch heran. Was nun aber kein Schaden ist. Denn unergründl­ich die Wellen, die ein Dirigent aussendet, im Letzten auch sein mögen: Sie sind es, die mit beitragen zum anhaltende­n Zauber der Musik.

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Christian Thielemann: Dirigieren – Conducting. Herausgege­ben von Lois Lammerhube­r und Clemens Trautmann, 258 Fotos, dt./engl. Edition Lammerhube­r, 318 S., 99 ¤

So sieht sie aus, die ultimative Geste

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 ?? Foto: Lois Lammerhube­r ?? Die bloßen Hände sind besser für die Arbeit mit dem Chor: Christian Thielemann bei der Probe des Verdi-Requiems in der Dresdner Semperoper.
Foto: Lois Lammerhube­r Die bloßen Hände sind besser für die Arbeit mit dem Chor: Christian Thielemann bei der Probe des Verdi-Requiems in der Dresdner Semperoper.
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