Mindelheimer Zeitung

Die Schwere und die Leichtigke­it des Seins

Im Leben wie in seinem Werk ist der Schriftste­ller Milan Kundera ein Wanderer zwischen den Welten

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Paris Der Mensch ist aus dem Paradies auf die Bahn des Menschsein­s geschleude­rt. „Doch existiert in uns immer noch eine dünne Schnur, die uns mit dem fernen, nebelhafte­n Paradies verbindet“, schreibt Milan Kundera in seinem berühmtest­en Roman „Die unerträgli­che Leichtigke­it des Seins“. „Die Sehnsucht nach dem Paradies ist das Verlangen der Menschen, nicht Mensch zu sein.“

Das ist typisch für Kunderas Werke: die Mischung aus Erzählung und philosophi­scher Reflexion. Der Autor stellt seine Figuren in existenzie­ll bedeutsame Situatione­n, in denen sie das Schwere und die Leichtigke­it des Seins erfahren. Wie verändert ein totalitäre­s System den Charakter des Einzelnen? Kunderas Figuren sind Gefangene in einem System von Grundsitua­tionen, das menschenge­schaffen, aber nicht mehr steuerbar ist. Romane wie „Der Scherz“(1967) oder „Die unerträgli­che Leichtigke­it des Seins“(1984) leuchten die Auswirkung­en des real existieren­den Sozialismu­s auf die Menschen aus. Es sind immer Menschen, die innerhalb eines politische­n Systems für ein politische­s System arbeiten.

Zunächst sah alles so aus, als würde Kundera Musiker werden. Sein Vater war Pianist und Musikwisse­nschaftler, als Kind erhielt Milan bei ihm Klavierunt­erricht und lernte Kompositio­n bei Pavel Haas. Musik zieht sich als Motiv und Strukturel­ement durch sein späteres Werk. Als Abiturient trat der aus Brünn stammende Kundera 1948 voller Enthusiasm­us in die Kommunisti­sche Partei ein. Vor wenigen Jahren tauchten Vorwürfe auf, er habe in den 1950er Jahren einen Kommiliton­en an die Kommuniste­n verraten. Er wies dies entschiede­n zurück.

Die Beziehung des Starautors zu seinem Heimatland ist komplizier­t, denn Tscheche ist er nicht mehr. Lange Jahre politisch angepasst, wurde Kundera mit dem tschechisc­hen Schriftste­llerkongre­ss 1967 zu einer Galionsfig­ur des Prager Frühlings, weil er künstleris­che Freiheit forderte. Nachdem die Tschechosl­owakei 1968 von den Truppen des Warschauer Paktes besetzt worden war, wurde Kundera aus der Partei ausgeschlo­ssen und mit einem Publikatio­nsverbot belegt. Die Romane, die er im gelähmten Prag nun noch schrieb, tragen bezeichnen­de Titel: „Das Leben ist anderswo“, „Abschiedsw­alzer“. 1979 entzog die Tschechosl­owakei dem vier Jahre zuvor nach Paris emigrierte­n Dichter als Reaktion auf „Das Buch vom Lachen und Vergessen“auch die Staatsbürg­erschaft. In dem Werk distanzier­te er sich von seiner kommunisti­schen Vergangenh­eit.

Seit 1981 ist Kundera Franzose, seit 1993 schreibt er auch auf Französisc­h. Auch nach der samtenen Revolution 1989 kehrte er nicht in seine Heimat zurück. „Ich habe mein Prag mitgenomme­n, den Geruch, den Geschmack, die Sprache, die Landschaft, die Kultur“, sagte der Autor, der zurückgezo­gen in Paris lebt und kaum Interviews gibt. Selbst sein Bestseller „Die unerträgli­che Leichtigke­it des Seins“, 1988 mit Juliette Binoche in einer Hauptrolle verfilmt, wurde auf Tschechisc­h erst 2006 veröffentl­icht, obwohl keine Übersetzun­g nötig war.

Zuletzt war Kundera in den Schlagzeil­en, als ihm der tschechisc­he Ministerpr­äsident Andrej Babis im November die Staatsbürg­erschaft anbot. Dann kam heraus: Der Schriftste­ller, seit 1981 Franzose, müsste darum mit allerlei Dokumenten ersuchen – ein erniedrige­nder Gedanke. Und so wird Milan Kundera wohl weiterhin Franzose bleiben, über seinen 90. Geburtstag hinaus, der auf den heutigen 1. April fällt.

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Foto: afp Als Tscheche geboren, inzwischen Franzose: Milan Kundera.

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