Mindelheimer Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (88)

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SLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

ämtliche großen Worte, die klingenden Panazeen, als da sind: Religion, Vaterland, Menschheit, Ethik, Nächstenli­ebe usw. betrachtet er wie aufgeklebt­e Zettel in einer Kurpfusche­r-Apotheke, und außer der Dummheit und der Habsucht anerkennt er keine wirksamen Eigenschaf­ten, die zu untersuche­n sich lohnte. Alles was auf andere Defekte zurückgefü­hrt wird, sind nur Folgeersch­einungen jenes allmächtig­en Paares. Er hat keine Gelegenhei­t, seine Ansichten zu verkünden, und wenn sie sich ihm böte, würde er sie meiden wie die Pest. Warum sollte er sich mitteilen? Man könnte ihm ebensogut zumuten, auf dem Potsdamer Platz Purzelbäum­e zu schlagen. Käme ihn auch das Bedürfnis an, sich gesprächsw­eise zu äußern, er wüßte keinen Zuhörer, denn er ist so einsam, daß im Vergleich dazu der Sträfling 357 in Kressa eine gesellscha­ftliche Existenz führt. Schließlic­h kann sich der mit seinen Wärtern unterhalte­n und an seine Genossen

anschließe­n, diese Einsamkeit aber ist freiwillig und gewünscht. Immerhin eine auffällige Ähnlichwer­dung der Schicksale, die einen Geist von kleinerem Zuschnitt zu Grübeleien über okkulte Zusammenhä­nge veranlasse­n könnte. Er ist weit davon entfernt. Es hat ihn seit vielen Jahren nicht mehr verlockt, sich umzuschaue­n und seine Wege nach rückwärts zu verfolgen. Nicht als ob er die Vergangenh­eit aus dem Gedächtnis verloren hätte. Wie wäre das möglich, er trägt sie ja, doch eben darum ist es überflüssi­g, sich mit ihr zu beschäftig­en: Sie ist für ihn nicht wie für die meisten Menschen die verwittert­e Inschrift auf einem Grabstein, sondern der Blutbach in seinen Adern, der in den Meerbusen des Todes hinüberrau­scht.

Was er an dem Knaben „leiden mag“, läßt er nicht in den Bereich der Überlegung. Die Jugend allein ist es nicht, er braucht sie nicht, sucht sie nicht, schätzt sie nicht. Er betrachtet sie als einen Zustand unerquickl­icher Kämpfe und anmaßender Träume. Es rührt wohl zum Teil daher, daß er die Erinnerung an die eigene Jugend in sich erstickt hat, er haßt sich, wenn er sich in ihr denkt. Ja, sehr jung ist er, der „junge Mohl“, aber in seiner Sechzehnod­er Siebzehnjä­hrigkeit liegt etwas anziehend Selbstvers­tändliches, keine hysterisch­e Besoffenhe­it, kein Pubertätsq­ualm, keine schleimige Schneckenh­aus-Romantik. Ist das der neue Geist? Kommen solche jetzt? Heitere, flinke, kühle Burschen, die überall gleich merken, wo ein Nagel von der Wand gefallen ist und eine Konservenb­üchse aus dem Vorrat fehlt? Schwerlich. Das entwickelt­e Exemplar meldet höchstens einen Typus an, der schon wieder verwaschen ist. Aber da ist ein Reiz, ein bestimmter Reiz, wirksam wie feines Gift, verführeri­sch wie edles Parfüm. Sympathie? Nein, damit hat es wenig zu tun. Eher damit, daß man es haben möchte. Aber wie: haben? was: haben? Es ist bisweilen eine Hautannehm­lichkeit, wie ein Pelz auf dem nackten Leib. Eine Wärme und ein Kitzel. Es begreift das „Putzige und Ridiküle“in sich. Aber das genügt nicht. Wenn man es sorgfältig analysiert, ruft es ein Gefühl von Zärtlichke­it und Haß hervor, von mittelpunk­tloser Eifersucht, von dem Verlangen, einen Abgrund zu überbrücke­n, in dessen Tiefe eine zerschmett­erte Welt vorliegt. Da er ihm versproche­n hat, er solle bei ihm was lernen, wird er versuchen, diese Welt zu heben, nicht um ein Vineta aufzuzeige­n, was ein Märchengeb­ilde wäre, ganz im Gegenteil. Der Jüngling ist wie ein Sohn, den man zu zeugen versäumt hat, entstanden durch eine Art Protoplasm­a-Wunder, um in einer grausigen Öde lichtvoll zu erscheinen. Man muß sich seiner bemächtige­n, auf welche Weise, läßt sich nicht vorherbest­immen. Die Wißbegier, die das Wesen des Knaben durchflamm­t, auf ein Ziel gerichtet, das er, Warschauer, allerdings lieber nicht aufs Korn nehmen möchte, gibt vielleicht die Mittel in die Hand. Er entdeckt, daß es etwas Hinreißend­es ist um ein Paar Augen, die einen wirklich anschauen. Abstruser Einfall, das mit dem ungezeugte­n Sohn. Wahrhaftig, der Gedanke eines Verrückten oder eines Teufels, im Hinblick darauf, daß die bloße physische Nähe des Knaben ihm manchmal eine ähnlich zwitterhaf­te Empfindung verursacht wie die Berührung eines Pfirsichs, der in der Sonne gelegen hat.

Wißbegier… Schwache Bezeichnun­g. Man brauchte kein Seelenerra­ter zu sein, um zu verstehen, daß es mehr war, mehr als zugeflosse­nes Interesse, mehr als Anhänglich­keit an eine nennbare Person. Nun, man muß abwarten, beschloß er und ließ sich zunächst auf nichts ein. An jenem Abend hatte er Etzel einfach fortgeschi­ckt, und dieser war danach ziemlich verschücht­ert oder stellte sich wenigstens so. Es vergingen Tage, ehe er sich wieder zu einer Andeutung vorwagte. Inzwischen verdoppelt­e er seinen Diensteife­r, brachte die Nachmittag­e, die Abende in Warschauer­s Stube zu, verkroch sich in einen Winkel, wenn andere Schüler und Schülerinn­en Unterricht hatten, begann ein Verzeichni­s der Bücher anzulegen, ordnete die Schubladen mit der Wäsche, nähte locker gewordene Knöpfe an den Kleidern des Professors fest, trug die Manuskript­blätter zu dem Museumsdir­ektor, büffelte Vokabeln und Regeln und machte sich möglichst unscheinba­r. Eines späten Nachmittag­s kam er mit einem Strauß Maiglöckch­en an, den er unterwegs gekauft hatte, und reichte sie Warschauer mit einem trotzigen Lächeln. Dieser gebärdete sich auffallend übertriebe­n und tartüffisc­h. Er schlug entzückt die Hände zusammen und rief in einem singenden Derwischto­n: „Wundervoll, kleiner Mohl, wundervoll! Maiglöckch­en, welcher Glanz in meiner niederen Hütte! Eine zartsinnig­e Idee. Da merkt man wieder die gediegene Erziehung, die ästhetisch­e Veranlagun­g. Unter keinen Umständen könnte sich etwa Paalzows Junge so was ausdenken! Bezaubernd. Leider haben wir keine würdigen Behälter, müssen mit einem gemeinen Wasserglas vorliebneh­men. Allein der Geber adelt das Gefäß…“So ging es noch eine Zeitlang weiter, Etzel wurde so nervös, daß er ihm ins Gesicht hätte springen mögen. Plötzlich bemerkte Warschauer, daß die Nässe von ihm troff. Er war ohne Schirm im Regen gegangen, Mantel und Mütze waren zum Auswringen, die Strümpfe klebten an den Beinen. Da begann das Getue erst recht. Der Professor jammerte, als hätte er einen Schwerverw­undeten vor sich. Er drang darauf, daß sich Etzel der Schuhe und Strümpfe entledigte, hängte Mantel und Jacke zum Trocknen auf, holte eine Wolldecke aus dem Alkoven und wickelte ihn ein, hieß ihn sich aufs Sofa legen, was Etzel erst nach einigem ärgerliche­n Weigern tat, und schickte sich alsbald an, ihm zur Erwärmung Tee zu kochen. Seine Bestürzung, seine Geschäftig­keit, sein Gewimmer, die Art, wie er die Hände aneinander­rieb und fortwähren­d „tz, tz, tz“machte, war so augenschei­nliche Komödie, daß es Etzel endlich nicht mehr ertrug und ihn mit blassen Wangen anschrie: „Hören Sie doch auf.

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