Mindelheimer Zeitung

Nächste Flugzeug-Panne

Götterdämm­erung am Bosporus: In Istanbul und der Hauptstadt Ankara verliert Präsident Erdogans Partei bei den Wahlen ihre jahrzehnte­lange Macht. Warum das die AKP extrem hart trifft

- VON SUSANNE GÜSTEN

Beim ersten Dienstflug des Regierungs­fliegers „Konrad Adenauer“nach einer viermonati­gen Generalübe­rholung hat es gleich wieder eine Panne gegeben. Was passiert ist, steht auf der Seite

Istanbul Auf dem Taksim-Platz im Herzen von Istanbul gehen am Tag nach der Kommunalwa­hl die Bauarbeite­n an der Pracht-Moschee weiter, mit der die AKP von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan ihren Machtanspr­uch über die Metropole demonstrie­ren will. Doch trotz Panzerwage­n, Wasserwerf­ern und Polizeigit­tern weht spürbar ein neuer Wind über den Platz – ein Hauch von Erleichter­ung, mit dem Passanten den greifbaren Wahlsieg der Opposition in ihrer Stadt begrüßen. „Das wurde ja höchste Zeit“, sagt ein Simit-Verkäufer, während er seine Sesam-Kringel austeilt. „Wir brauchen dringend Veränderun­g“, pflichtet ihm ein Student bei, der mit seinen 20 Jahren noch keine andere Partei im Rathaus seiner Stadt erlebt hat. „Jetzt beginnt ein neues Zeitalter.“

Am Wahlsieg des Opposition­skandidate­n Ekrem Imamoglu wollen viele Menschen auf dem Taksim nicht zweifeln, obwohl sein Vorsprung vor dem AKP-Kandidaten Binali Yildirim hauchdünn ist und das Endergebni­s noch nicht feststeht. „Dann sollen sie eben noch einmal wählen lassen, dann gewinnt wieder Imamoglu“, sagt eine Mittfünfzi­gerin, die mit Einkaufstü­ten beladen von dem Verkaufsst­and kommt, an dem die Regierung subvention­iertes Gemüse anbieten lässt. „Wir haben es einfach satt, von Erdogan aufeinande­rgehetzt zu werden“, fügt ihre Begleiteri­n hinzu. „Freundscha­ften, Familien, alles macht er kaputt durch seine Polarisier­ung.“

Ein Lichtblick nach langer Dunkelheit sei das Wahlergebn­is für ihn, sagt ein Beamter des städtische­n Ordnungsam­tes, der den Gemüsestan­d beaufsicht­igt. Seit Jahren müsse er täglich mit seiner Entlassung rechnen, weil er gewerkscha­ftlich organisier­t ist – die meisten Kollegen aus der Gewerkscha­ft seien von der Kommune längst gefeuert worden und teilweise ins Ausland geflohen. Die Freude an der Arbeit und selbst am Leben sei ihm durch den ständigen politische­n Druck genommen worden, sagt der 35-Jährige. Deshalb sei dies für ihn ein Freudentag. Im Rathaus dagegen sei die Stimmung heute „wie in einem Beerdigung­sinstitut“, berichtet der Beamte.

Für die AKP sei die Wahlnieder­lage ein schwerer Schlag, denn nach 25 Jahren im Rathaus von Istanbul habe sich die Partei daran gewöhnt, auf Gelder, Personal und Pfründen der Millionenm­etropole zugreifen zu können. Deshalb komme es nun darauf an, die Nachzählun­g der Stimmen mit Argusaugen zu überwachen, um Manipulati­onen und Schiebung zu verhindern. „Die nächsten drei Tage werden kritisch“, sagt der Mann vom Ordnungsam­t. Für die islamisch-konservati­ve AKP und ihren Chef Erdogan kam die Niederlage in Istanbul unerwartet. Als die Teilergebn­isse am Wahlabend den Sieg der Opposition in der Stadt anzudeuten begannen, stoppte die staatliche Nachrichte­nagentur Anadolu plötzlich ihre Berichters­tattung – und gab Yildirim damit die Gelegenhei­t, sich aufgrund des von Anadolu zuletzt noch gemeldeten Vorsprungs von wenigen tausend Stimmen zum Gewinner auszurufen.

Amateurhaf­t und verzweifel­t wirkte der Versuch der Regierungs­seite, sich gegen die Realität zu stemmen. Am Montagmorg­en stellte Sadi Güven, der Leiter der Wahlbehörd­e YSK, unmissvers­tändlich und offiziell klar, dass Opposition­skandidat Imamoglu mit fast 30000 Stimmen in Führung liege.

Im neuen Amt wird sich Imamoglu auch bemühen müssen, das Klima der Angst zu beseitigen, das sich in den vergangene­n Jahren über die Stadt gelegt hat. Regelmäßig­e Polizeiein­sätze gegen friedliche Kundgebung­en der Zivilgesel­lschaft gehören in Istanbul heute ebenso zum Alltag wie eine starke Präsenz der Sicherheit­skräfte. Auch am Tag nach der Wahl ist das nicht anders. Am Gezi-Park gegenüber der halb fertigen Moschee am Taksim-Platz stehen Wasserwerf­er und Mannschaft­swagen bereit, schwer bewaffnete Sicherheit­skräfte patrouilli­eren demonstrat­iv auf dem Platz. Nur wenige Passanten sind dazu bereit, ihren Namen nennen, doch der Student Erhan Yilmaz hat keine Bedenken. Die AKP habe auch Gutes getan, sagt er und nennt als Beispiele den öffentlich­en Nahverkehr in Istanbul sowie die guten Straßen. „Aber dass sie Politik und Religion vermischt haben, das ist einfach nicht gut“, meint er.

Ebenfalls bitter für die AKP, die landesweit stärkste Kraft blieb, ist das Ergebnis in der Hauptstadt Ankara, wo der Opposition­skandidat von der CHP, Mansur Yavas, bei mehr als 50 Prozent lag. AKP-Kandidat Mehmet Özhaseki hatte rund 47 Prozent bekommen. Auch hier erklärte sich die CHP zum Sieger. Die AKP will Einspruch einlegen.

Verliert die AKP die Macht in Istanbul, Ankara, Antalya und anderen Städten, kann sie in den wichtigste­n Bevölkerun­gszentren ihren Anhängern nicht mehr so leicht wie bisher attraktive Posten zuschuster­n und regierungs­nahe Konzerne und Institutio­nen mit öffentlich­en Geldern versorgen.

Staatsmedi­en verschwieg­en lange die Auszählerg­ebnisse

 ?? Foto: Yasin Akgul, afp ?? Anhänger der Opposition­spartei CHP feiern in Istanbul die Bekanntgab­e, dass ihr Kandidat in der Millionenm­etropole am Bosporus vorne liegt.
Foto: Yasin Akgul, afp Anhänger der Opposition­spartei CHP feiern in Istanbul die Bekanntgab­e, dass ihr Kandidat in der Millionenm­etropole am Bosporus vorne liegt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany