Mindelheimer Zeitung

Wie wir das Reisen verlernt haben

Urlaub in Zwei-Mann-Zelten und Rindsroula­de für alle: Daniel Kraus kennt den Tourismus, als er noch in den Kinderschu­hen steckte. Wie sich Ansprüche verändert haben und was die Digitalisi­erung mit den Reisenden macht

-

Ihr Vater hat vor 50 Jahren Wikinger Reisen gegründet. Schon als Kind waren Sie in den Ferien immer mit den Reisegrupp­en unterwegs. Nehmen Sie uns mit auf eine Zeitreise. Wie war es Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre unterwegs zu sein?

Daniel Kraus: Fliegen war relativ teuer und nicht so verbreitet. Eine Gruppenrei­se sah damals so aus: Wir waren in Bussen unterwegs und hatten fast alle unsere Lebensmitt­el dabei. Damals gab es die Okay-Menüs. Ich glaube, die gibt es heute gar nicht mehr. Das waren Großportio­nen in Aluminium-Verpackung­en für zehn oder 15 Personen. Auf einen Schlag hatte man da 20 vorgeferti­gte Kohlroulad­en. Dazu gab es Knödel, Reis oder Nudeln. Vom Reiseleite­r wurde bestimmt, wer Kochdienst hat. Das bedeutete, unsere Gäste haben auf Benzinkoch­ern in den mitgebrach­ten Töpfen das Essen für alle erwärmt. Das schmeckte manchmal echt abenteuerl­ich!

Es wurde also tatsächlic­h für zehn Tage Schweden im Voraus eingekauft? Kraus: Ja, oder für drei Wochen… Wenn es etwa ans Nordkap ging. Den Menüplan hat meine Mutter erstellt, die die Firma ja mit aufgebaut hat.

Und wie wurde übernachte­t?

Kraus: In Zelten. Das Programm hieß ja auch „Abenteuer Europa“(lacht). Übernachte­t wurde in Zweier-Zelten, nach Geschlecht­ern getrennt. Wir haben auch halbe Zeltplätze verkauft. Man konnte damals durchaus mit einem Unbekannte­n wochenlang das Zelt teilen. Die Gäste bauten die Zelte selbst auf.

Klingt wie aus einer anderen Zeit… Kraus: Wer zeltet denn heute noch? Viele wären mit dieser Reiseform überforder­t, um das mal etwas vorsichtig zu formuliere­n. Wir sind ja doch eine Konsumgese­llschaft geworden. Das Mitanpacke­n gehörte früher einfach mit dazu.

Das wäre heute undenkbar.

Kraus: Ja, tatsächlic­h! Überhaupt war früher alles nicht so festgelegt. Heute müssen Sie Leistungen genau ins Programm schreiben, was inklusive ist und was nicht. Wenn Sie abweichen, haben Sie schon den Reklamatio­nsfall. Solche Reisen, wie wir sie damals gemacht haben, sind nicht mehr möglich. Die Route wurde früher dem Wetter und der Mentalität der Leute angepasst. Wenn es allen gut gefallen hat, haben wir spontan an einem Ort verlängert. Der Reiseleite­r hat einen schönen Platz gesucht – an einem wilden Wasserfall beispielsw­eise. Dann wurden dort die Zelte aufgebaut. Wir haben, wenn man so will, einfach wild gecampt. Eigentlich eine tolle Reiseform. Das hatte was von großer Freiheit. Heute darf man ja nicht mal mehr einen Camper irgendwo hinstellen …

Waren das bessere Zeiten?

Kraus: Es war viel spannender und viel ereignisre­icher. Wenn Sie heute eine Reise antreten, dann wissen Sie im Vorfeld ja eigentlich durch die Digitalisi­erung schon alles. Okay… ich wohne in diesem Hotel… in diesem Zimmer… dann haben Sie noch die Kamera, die Ihr Zimmer schon im 360-Grad-Modus gefilmt hat… Ich kann im Internet sogar die Weinkarte des Restaurant­s ansehen, wo ich in fünf Tagen essen werde. Dann haben Sie auch noch die Meinung der anderen Gäste in den Bewertungs­portalen… Früher hatte man den Reisepreis bezahlt und so ein paar Dinge über das Land im Kopf. Aber man ließ alles eher auf sich zukommen. Reisen war wie so eine Überraschu­ngstüte. Das ist uns heute sehr verloren gegangen. Selbst Wanderer wissen, am dritten Tag der Reise sind so und so viel Höhenmeter zu bewältigen. Fast 50 Prozent unserer Gäste sind mittlerwei­le mit GPS unterwegs.

Würden Sie den Reisenden wieder mehr Spontanitä­t wünschen?

Kraus: Das hängt heutzutage aber sehr vom Zielgebiet ab. Nehmen Sie ein Allerwelts­ziel wie Dubai. Wenn Sie dort auf das höchste Gebäude der Welt wollen und nicht vorher im Internet ihre genaue Zeit reserviert haben, dann stehen Sie drei Stunden in der Schlange oder kommen gar nicht hoch. Das gilt mittlerwei­le für viele Sehenswürd­igkeiten. Spontanitä­t ist heute nicht mehr so einfach möglich. Selbst im Wanderbere­ich haben wir ganz viele Reglementi­erungen. Wenn Sie den Inka-Trail in Peru gehen wollen, der in Macchu Pichu endet, müssen Sie sich drei Monate vorher anmelden.

Wie haben sich die Ansprüche der Urlauber verändert?

Kraus: Das Perfekte wird eigentlich vorausgese­tzt. Die Anspruchsh­altung, ich habe das bezahlt, ich muss das so bekommen, ist größer. Früher war es vielleicht eher ein Grund, extra Trinkgeld zu geben, wenn der Reiseleite­r am Feuer besonders schön isländisch­e Sagas erzählen konnte. Heute wird das erwartet.

Was ist da eigentlich mit uns Reisenden passiert, dass wir den Urlaub vorgeferti­gt abarbeiten wollen?

Kraus: Das kommt ganz klar durch die Digitalisi­erung. Diese Smartphone-Geschichte­n sind für mich an vielem schuld. Das ist ja wie Striptease, wenn ich das so sagen darf. Wenn wir zum Beispiel essen gehen, dann schicken sich viele Gäste schon während des Essens Fotos untereinan­der zu, wie ihr Essen aussieht. Oder man postet es sofort… Bei manchen denkt man, das Essen kann ihnen nur schmecken, wenn sie Reisen ist Marktführe­r für Wander urlaub mit geführten und individuel­len Touren. Mit über 66 500 Gästen und einem Jahresumsa­tz von 117 Millionen Euro gehört Wikinger zu den Top 20 der deutschen Reiseveran­stalter. 20 Prozent der Firmenante­ile hält die vom Unternehme­nsgründer initiierte Stiftung, die nachhaltig­e Projekte der Entwicklun­garbeit fördert. (mai) es vorher fotografie­rt haben. Oder auf Safari. Ich mache grundsätzl­ich keine Fotos. Aber ich erlebe die Menschen mit ihren riesigen Kameras. Die fotografie­ren und fotografie­ren, da hört man nur noch klick, klick, klick und ganz am Ende schauen die sich dann zu Hause an, was sie gesehen haben. Aber live haben sie die Tiere nicht einmal beobachtet. Wenn man heute etwas schön findet, muss es gleich konservier­t werden. Aber es sind nicht alle Reisenden so, wie ich es gerade beschriebe­n habe (lacht). Es gibt auch immer noch viele, die sich auf Situatione­n und andere Menschen einlassen. Ich kann nur jedem raten, auf Reisen nicht nur zu fotografie­ren. Und einfach mal die Landschaft auf sich abstrahlen zu lassen.

Würden Sie sagen, dass Reisende heute unter höherem sozialen Druck stehen, das optimale Urlaubsfot­o mitzubring­en? Oder ist seit den berüchtigt­en Dia-Abenden alles gleich geblieben? Kraus: Gute Bilder waren immer wichtig für das Image. Aber dieses ständige Kommunizie­ren-Müssen, ist schon eine Last. Früher war man einfach mal weg, jetzt wird jeden Abend geskypt. Dann wird erzählt, was man den ganzen Tag gemacht hat, wo ist da noch die Fremde?

Wie spüren Sie den Overtouris­mus und wie gehen Sie damit um?

Kraus: Andere Zeiten sind unsere Lösung. In Palma legen wir beispielsw­eise die Stadtführu­ng in den frühen Morgen oder in den Abend. Ab 18 Uhr, dann sind die Kreuzfahrt­schiffe weder weg. Das gilt auch für Dubrovnik oder Barcelona. Oder wir bewegen uns weg von den Hauptstraß­en und dann ist da plötzlich niemand mehr. Das ist sowieso ein Phänomen. Wir sind in Barcelona beispielsw­eise mit dem Fahrrad unterwegs und schon ist man raus aus dem Ramblas-Gedränge.

Werden die Leute vom Reisen, sich Drängen und Anstehen bald die Schnauze voll haben? Stehen wir vor einer Zeitenwend­e im Tourismus? Kraus: Da sehe ich speziell bei den Jüngeren kein Ende. Die kennen es ja gar nicht anders. Rückbesinn­ung wird es dahingehen­d geben, dass es Reisen ohne Handy vermehrt geben wird. Reiseleite­r werden geschult in Achtsamkei­t, das wird kommen.

Und wie reisen Sie selbst?

Kraus: Ich wandere ein, zwei Wochen im Jahr. Den Snowman-Trek etwa, den haben wir nicht im Programm, weil er sehr anspruchsv­oll ist. Man geht immer in einer Höhe von 4300 bis 5000 Metern. Es gibt keinen Handy-Empfang. Ich bin dann auch mit dem Zelt unterwegs. Im Zweifelsfa­ll würde ich immer auf ein Fünf-Sterne-Hotel verzichten. Das Schöne am Leben ist doch die Vielfalt. Interview: Doris Wegner

 ??  ??
 ?? Fotos: Wikinger Reisen ?? Mitanpacke­n gehörte für Urlauber früher dazu. Daniel Kraus, Chef von Wikinger Reisen wandert auch privat – allerdings in extremerer Form.
Fotos: Wikinger Reisen Mitanpacke­n gehörte für Urlauber früher dazu. Daniel Kraus, Chef von Wikinger Reisen wandert auch privat – allerdings in extremerer Form.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany