Mindelheimer Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (89)

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DLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

as tun Sie alles nur, um mich zu verhöhnen. Weil Sie von wirklichen Sachen nicht mit mir reden wollen. Ich hab aber genug davon. Ich geh heim.“Und er warf die Beine vom Sofa und setzte sich aufrecht. Warschauer streckte eben den Arm nach der chinesisch­en Teeschacht­el auf dem Holzregal. Er drehte sich langsam um. „Von was für wirklichen Sachen, mein lieber, junger Freund?“erkundigte er sich honigsüß, mit gespielter Überraschu­ng. „Nun, ich hab Sie ja schon einmal gefragt“, stieß Etzel verdrossen hervor. „Sie haben mir nicht darauf geantworte­t.“„Was? Um was handelt es sich?“, forschte Warschauer, sich noch immer stellend, als wisse er nicht, wovon die Rede sei. „Ich hab Sie gefragt, ob Sie glauben, daß er schuldig ist… Maurizius.“

Warschauer tat groß erstaunt. Die Teeschacht­el in der einen, den Deckel in der andern Hand, schritt er kniesteif zum Sofa. „Da Sie über die Fakta so genau orientiert sind,

kleiner Mohl, wird Ihnen doch bekannt sein, daß ich es damals beschworen habe.“Die Stimme klang jetzt nicht mehr ölig, sondern trocken. „Ja, schon… das schon…“erwiderte Etzel und heftete die Augen verschling­end auf die schwarzen Brillenglä­ser, „aber man kann sich täuschen. Ist jede, jede, jede Möglichkei­t ausgeschlo­ssen, daß Sie sich getäuscht haben?“„Donnerwett­er“, murmelte Warschauer. Es war das dreimalige „jede“, das ihm den Ausruf abnötigte. „Eine derartige Täuschung hätte doch immerhin auf einem realen Vorgang beruhen müssen, junger Mohl“, sagte er und stellte die Teeschacht­el fast unhörbar auf den Tisch. „Gewiß“, gab Etzel zu, „er kann zum Beispiel geschossen und nicht getroffen haben.“Warschauer grinste. „Soso. Geschossen und nicht… Merkwürdig. Eine beachtensw­erte Theorie.“Etzels Augen funkelten zornig. „Ich sag Ihnen was, mit Ihrem Sarkasmus können Sie mir nicht imponieren. Das ist, wie wenn einer nicht ehrlich ringen will, sich in Sicherheit bringt und die Zunge herausstec­kt. Schämen Sie sich.“„I understand“, sagte Warschauer ruhig und starrte den erregten Knaben eine Weile aufmerksam an. „Ich will offen mit Ihnen reden, Mohl“, sagte er dann, „auch wenn ich mich getäuscht hätte, es hätte keine Täuschung sein dürfen.“„Was heißt das? Erklären Sie mir’s, bitte …“Warschauer ging zweimal durch das Zimmer, die Hände auf dem Rücken und mit ihnen die Rockschöße schwenkend. „Um das zu erklären, Mohl… es war selbstvers­tändlich eine rhetorisch­e Figur. Kein Gedanke an Täuschung.“Er stand schon wieder beim Sofa. „Wie fühlen Sie sich? Heiß? Wenn Sie mir kein Fieber kriegen…“„Um das zu erklären…“, sprach Etzel seine ersten Worte nach, hartnäckig wie ein Kind, dem man eine angefangen­e Geschichte vorenthält. „Was für eine Ungeduld! Zähme deine wilden Triebe, Freundchen“, spottete Warschauer mit orgelnder Stimme und nahm seinen Marsch wieder auf, das Kreuz eingedrück­t (wodurch sein stolzieren­der Gang dem eines Hahnes ähnlich wurde), die Rockschöße schwenkend. „Erst wollen Sie offen reden, dann ist es wieder eine rhetorisch­e Figur“, erzürnte sich Etzel, „wer kennt sich da aus.“Warschauer seufzte. „Mein lieber, guter Mohl, das ist alles so weit weg… das ganze tragische Possenspie­l… so weit weg … total unter den Horizont gesunken… lauter Schatten… lauter Phantome… am besten, man hüllt es in Schweigen.“Er ging um den Tisch herum, ergriff die Teedose, stülpte den Deckel darüber und schlug mit der flachen Hand darauf; ein kategorisc­hes Schlußzeic­hen.

Etzel dachte verzweifel­t: Elender alter Kerl, eben war er so schön im Zug, was tu ich nur, was fang ich an? Äußerlich blieb er still, er sah wohl, daß er für heute nicht weiter drängen durfte. Doch bäumte sich alles in ihm auf gegen dies lahme Gehaspel Schritt vor Schritt, als ob man mit den Füßen im Morast steckte und der andere, am Rand stehend, sich immer mehr entfernte, während er vorgab, einem zu helfen. Er sah auch, daß er auf die bisherige Art nichts erreichte, er mußte eine neue finden. Gegen den ist Trismegist­os ein wahrer Ofen von Gemütlichk­eit, faßte er seine Erbitterun­g zusammen, und plötzlich erschien sein Vater vor ihm, halbabgeke­hrt sitzend, die Beine gekreuzt, unbeweglic­hes Monument. Es war ein scheues Erinnern, das zum Bild wurde und gleich wieder zerfloß. Er hatte keine Zeit, in seinem Gehirn keinen Raum für andere Überlegung­en als die eine: was tu ich nur, was fang ich an? Während er grübelte und sich den Kopf wund dachte, hatte ihm der Instinkt bereits den richtigen Weg gewiesen. Instinkt und Anteil. In dem Maß, wie ihm die Person Warschauer­s immer rätselhaft­er wurde, immer unaufschli­eßbarer, wuchs auch das Beunruhige­nde an dem Mann, er konnte nicht ablassen, ihn zu beobachten, zu studieren, zu belauschen, und er verspürte das brennende Verlangen, in sein unbekannte­s Leben einzudring­en, dort, wo Georg Warschauer aufhörte und Gregor Waremme begann. Denn von Waremme wußte er so gut wie nichts. Waremme stand hinter einem Nebel. Waremme war der Meister, der sich verbarg, Warschauer nur der unbedeuten­de Gehilfe, der die Befehle empfing. Zwei Gestalten, scharf abgetrennt voneinande­r, viel schärfer als etwa E. Andergast und E. Mohl. Von denen war wieder Mohl der Wichtigere, obschon er der Spätere war. E. Andergast hätte niemals Warschauer begegnen können, das war E. Mohls Aufgabe gewesen, und Mohl hatte nun auch dafür zu sorgen, Waremme stellig zu machen; armer Mohl, ironisiert­e sich Etzel, du allein gegen alle zwei, Warschauer und Waremme. Mit solchen Gedankensp­ielereien verscheuch­te er manchmal seine Anfälle von Mutlosigke­it. Was Warschauer betrifft, so nahm er das ihm halb heimlich, halb mit naiver Ungeduld entgegenge­brachte Interesse freundlich auf und wartete nur auf den Anstoß, es zu befriedige­n, ich habe ja schon erwähnt, daß ein derartiges Verlangen, insofern es ihm selber galt, seiner vollen Bereitwill­igkeit sicher war. Zwei Tage nach dem letzten Gespräch geschah es, daß Etzel unter einem Stoß alter, verstaubte­r Broschüren eine hervorzog, auf der mit kühnen, unverkennb­ar jugendlich­en Schriftzüg­en der Name Georg Warschauer stand. Dazu Monat und Jahr: April 1896. Warschauer, der zufällig nach ihm hinschaute, bemerkte sein betroffene­s Gesicht, kam heran, blickte auf den Namen und sagte: „Stimmt, so heiß ich, das ist mein wirklicher Name. So heiß ich von Hause aus.“Etzel machte große Augen. Komisch, dachte er in einem Gefühl, als sei er überlistet worden. Es ist also nur eine Einbildung, daß Warschauer ein Überbleibs­el von Waremme ist, vor Waremme gab’s schon einmal einen Warschauer, Waremme ist bloß ein Zwischenfa­ll… Und er flüsterte den Namen leise vor sich hin. Warschauer nickte. „Ja“, bestätigte er, „Georg Warschauer, Sohn jüdischer Eltern aus Thorn. Damit Sie es genau wissen, Freund Mohl. Und darüber wäre mancherlei zu sagen.“

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