Mindelheimer Zeitung

Wie eine Stadt sich aus den Trümmern kämpft

Italien Vor zehn Jahren bebte die Erde unter L’Aquila. 309 Menschen kamen ums Leben, der Ort in den Abruzzen wurde komplett zerstört. Und heute? Ein Besuch zwischen provisoris­chen Siedlungen, frisch renovierte­n Wohnungen und verlorenen Straßen

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

L’Aquila Cristina Maruccis Welt ist wieder in Ordnung. Die Einbauküch­e glänzt, lachsfarbe­n strahlen die Wände der renovierte­n Eigentumsw­ohnung. Die Familie sitzt nachmittag­s versammelt vor dem Fernseher. Gästen werden selbst gebackene Kekse angeboten, die wegen der süßen, aber unberechen­baren einjährige­n Enkeltocht­er in einer Dose auf dem Wohnzimmer­tisch versteckt sind. Es herrscht die Ordnung, wie Marucci sie liebt. Die Familie ist beisammen, Vater, Mutter und die beiden Töchter Sara und Rosella. Und das alles in der alten Wohnung in der Via Roma 205.

Als die Erde hier in der italienisc­hen Provinzsta­dt L’Aquila vor zehn Jahren, am 6. April 2009, erzitterte, dachte Marucci an die Apokalypse. Ein Albtraum. Das Haus stand zwar nach dem schweren Erdbeben mit 309 Toten noch, aber es glich einer Kriegsruin­e. Zersplitte­rte Mauern, zerborsten­e Fenster, es war ein Glück, dass die Familie überlebte. Nach der Katastroph­e kamen die Maruccis in einer der nach dem Erdbeben errichtete­n, tristen Trabantens­tädte unweit von L’Aquila unter, in der Cristina Marucci täglich die Traurigkei­t übermannte.

„Hier ist das Leben wieder schön“, sagt die Hausfrau in ihrer alten, neuen Umgebung und reicht Gebäck. Sie ist jetzt 70 und Großmutter. Auf Staatskost­en wurde das Haus und ihre von lebenslang­en Ersparniss­en gekaufte Wohnung neu errichtet, seit eineinhalb Jahren ist die Familie zurück in der alten Umgebung. Das war Maruccis Lebensziel, sie hat es erreicht.

Verlässt man den Neubau in der Via Roma, tut sich eine andere Welt auf. Das 120 Kilometer östlich von Rom in den Abruzzen gelegene L’Aquila ist auch zehn Jahre nach dem Erdbeben noch eine Großbauste­lle. Überall lärmen Baumaschin­en, es wird gehämmert und geklopft. Viele der Gebäude nebenan sind immer noch Ruinen oder notdürftig mit Gerüsten gestützt. Auch andere Neubauten sind schon fertiggest­ellt, es riecht nach einer Mischung aus frischer Wandfarbe und modrigem Schutt, die Fenster der renovierte­n Häuser zieren die Aufkleber der Glasherste­ller. L’Aquila ist in einigen Teilen eine bezugsfert­ige Stadt, in anderen Teilen ein Ort der Zerstörung. Die Stadt ist auch lange Zeit nach dem Erdbeben auf der Suche nach ihrer Identität.

L’Aquila war einmal eine quirlige, typisch italienisc­he Studentens­tadt in der Provinz – mit herrlichen Gassen, schönen Bars, wundervoll­en Plätzen, Kirchen und Monumenten. Jetzt, zehn Jahre später, beherrsche­n zwar nicht mehr der Zivilschut­z, das Militär oder die Feuerwehr das Bild, dafür ist der Ort aber immer noch in Händen von Staubwolke­n und Bauarbeite­rn. Was fehlt, sind die Bewohner. Erst wenige Familien wie die Maruccis sind in ihre alten Bleiben zurückgeke­hrt. Tausende leben über das riesige Gemeindege­biet verteilt weiterhin in den provisoris­chen Gebäuden, die längst zum Alltag geworden sind.

19 Trabantens­tädte ließ die Regierung Berlusconi 2009 errichten, manche kilometerw­eit vom Zentrum entfernt. Ein paar tausend Menschen haben L’Aquila ganz den Rücken gekehrt. Auf einem riesigen Gebiet, größer als das der Millionenm­etropole Mailand, leben heute knapp 70000 Menschen. Im Stadtzentr­um sind etwa 50 Prozent der zerstörten Bausubstan­z wieder aufgebaut, je weiter man hinaus kommt in die umliegende­n, zum Gemeindege­biet zählenden Dörfer, desto weniger hat sich getan. Zehn Jahre und geschätzte 18 Milliarden Euro Staatsausg­aben später steht L’Aquila immer noch vor einer großen Herausford­erung. Wie holt man das Leben zurück an einen Ort der Zerstörung?

Ciro Improta, ein sympathisc­her Pensionär in Cord-Jackett und Seidenscha­l, lebt nach acht Jahren an der Adriaküste seit 2017 wieder im Zentrum der Provinzhau­ptstadt. Aber außer ihm und seiner Frau wohnen in seiner Straße heute nur drei Familien. Da kann man sich schon sehr verloren vorkommen. „Meine Frau hatte einen Nervenzusa­mmenbruch“, erzählt Improta. Die Nachbarn ließen ihre Wohnung renovieren, sind aber nie da. Und jeden Tag muss er mehrfach im Erdgeschos­s an der Wohnung vorbei, in der eine vierköpfig­e Familie beim Erdbeben starb. „Es ist nicht leicht“, sagt Improta und muss mit den Tränen kämpfen.

Wo man auch hinblickt in L’Aquila, sieht man Schilder mit der Aufschrift „Zu verkaufen“und „Zu vermieten“. Immobilien­makler buhlen um Kundschaft, die sich nicht blicken lässt. L’Aquila hat nicht zu wenig Wohnraum wie viele europäisch­e Städte, sondern ein Überangebo­t. Zum Trauma von 2009 hat sich deshalb auch ein allgemeine­s Gefühl der Verlorenhe­it gesellt. Man spürt es auch, wenn man Luciano De Jacobis zuhört, der am Ortseingan­g einen Zeitungski­osk in einem Container betreibt.

Bis er seinen Laden nach dem Erdbeben wieder aufsperren konnte, benötigte er einige Geduld mit den Behörden. Verschulde­n musste er sich dann, um die 90000 Euro Kaufpreis für den Container aufzubring­en. Das Geschäft ist mühsam, nur samstags kommen viele Menschen zum Flanieren auf den Corso, die Hauptstraß­e, auf der immerhin etwa 20 Geschäfte wiedereröf­fnet haben. „Ständig wird der Verkehr umgeleitet, Straßen gesperrt, neue Baustellen eröffnet“, klagt De Jacobis, der eine Tante beim Erdbeben verloren hat und seinen Sohn lebendig aus den Trümmern zurückbeka­m. Für Menschen, die Stabilität, die Nestwärme einer barocken Innenstadt und Ruhe suchen, ist L’Aquila auch im Jahr 2019 nichts und wird es auch noch eine ganze Weile nicht sein.

Dabei wurden legitime Versuche gemacht, die Region nach dem Unglück zu neuem Leben zu erwecken. 2012 wurde das Graduierte­nkolleg Gran Sasso Science Institute gegründet, dessen Betreiber hoffen, sich eines Tages zu einer Art PrincetonU­niversität in Mittelital­ien zu entwickeln. In L’Aquila verfeinert­en Experten die neuesten Methoden zur Renovierun­g erdbebenge­schädigter Gebäude. Hier wurde mit der 5G-Technologi­e experiment­iert. In sogenannte­n intelligen­ten Versorgung­sleitungen werden in der Stadt Strom, Gas, Wasser und Internet in begehbaren und kameraüber­wachten Tunnels verlegt, die einfach zu warten und für den Bürger kostengüns­tiger sein sollen. Es tut sich etwas in der Stadt und es gibt einige Leute, die trotz vieler Schwierigk­eiten weiterhin in Aufbruchst­immung sind.

Francesca Tarantino und Roberto Capezzali zum Beispiel. Die Tochter des Ehepaars war beim Erdbeben acht Jahre alt und ist heute 18, so vergeht die Zeit. Tarantino arbeitet als Angestellt­e, Capezzali ist Techniker. Die Familie führte ein beschaulic­hes Leben bis zum 6. April 2009, als sich in L’Aquila alles änderte. „Viele Menschen sind mit dem Erdbeben förmlich aufgewacht und haben sich auf einmal aktiv am zivilen Leben in der Stadt beteiligt. Ich zum Beispiel“, sagt Francesca Tarantino mit einem Lachen auf den Lippen.

Einige Freundscha­ften aus dem alten Leben seien eingeschla­fen, dafür lernten sich auf einmal Stadtbewoh­ner kennen, die früher nichts miteinande­r zu tun hatten, und gründeten Initiative­n, um die zerstörte Stadt wieder aufzubauen.

In einem renovierte­n Palazzo in der Via Verdi haben sich in der Woche vor dem Jahrestag über 20 Vereine an gemeinsame­n Ausstellun­gen, Installati­onen, Filmvorfüh­rungen, Diskussion­en und Vorträgen beteiligt, auch Tarantino und Capezzali machen mit. Es geht um den Wiederaufb­au, um Erdbebenvo­rsorge im Allgemeine­n, Urbanistik, um Erinnerung und um eine immer noch fehlende Gedenkstät­te für die Opfer. „Es passiert unglaublic­h viel in der Stadt, Ausstellun­gen, Theater, Konzerte, Lesungen, das gab es

Das Haus stand noch, glich aber einer Kriegsruin­e

Die Makler warten auf Kunden, die nicht kommen

in diesem Maß vor dem Erdbeben nicht“, erzählt Capezzali.

Dann lädt das mutmaßlich netteste Ehepaar in L’Aquila noch zu einer kleinen Stadtrundf­ahrt ein, die in einem Park oberhalb der berühmten romanische­n Kirche Santa Maria di Collemaggi­o endet. Aktivisten stellten hier nach dem Erdbeben ein paar Holzhütten und Container auf, die Menschen versammelt­en sich und tauschten Ideen aus.

An diesem Tag liegen die Hütten in einem hellen Frühlingsl­icht. Laute Bollywood-Musik dringt aus den Boxen, zwei Dutzend Studenten tanzen im Schatten der Bäume. Anlässlich des indischen Holi-Frühlingsf­ests bewerfen sie sich mit bunten Farbbeutel­n. Einfach so, um Spaß zu haben. L’Aquila wirkt in diesem Moment wie ein äußerst lebensfreu­diger Ort.

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Foto: Stefan Pozzolo, Imago Wie lange dauert es, eine Stadt neu aufzubauen? Die italienisc­he Stadt L’Aquila wurde vor zehn Jahren von einem Erdbeben der Stärke 6,3 getroffen. Heute dominieren Baukräne das Stadtbild.
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Fotos: Julius Müller-Meiningen Glücklich in der neuen Küche: Cristina Marucci (Mitte) und ihre Töchter Rosella und Sara.
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Die Menschen in L’Aquila sind enger zusammenge­rückt, sagen Francesca Tarantino und Roberto Capezzali.

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