Mindelheimer Zeitung

Das Schweigen der anderen

Aufarbeitu­ng Die Hilferufe von Kindern, die sexuell missbrauch­t werden, verhallen viel zu oft ungehört. Eine Kommission hat das Phänomen untersucht. Was sie empfiehlt

- VON EMILY PFEIFER UND BERNHARD JUNGINGER

Berlin „Von meinem 11. bis zu meinem 16. Lebensjahr wurde ich regelmäßig vom katholisch­en Pfarrer meiner Heimatgeme­inde missbrauch­t.“So beginnt der Bericht von Kirsten (Name geändert), die wie gut 1200 weitere Betroffene ihre Geschichte der Unabhängig­en Kommission zur Aufarbeitu­ng sexuellen Kindesmiss­brauchs erzählt hat. Die 2016 gegründete Kommission hat am Mittwoch in Berlin ihre erste reguläre Bilanz vorgestell­t. „Aus den Berichten der Betroffene­n geht vor allem hervor, wie häufig das nahe Umfeld und die Gesellscha­ft versagt haben und Kinder nicht geschützt wurden, sagte Sabine Andresen. Die Vorsitzend­e der Kommission spricht vom „Schweigen der anderen“, das den sexuellen Missbrauch von Kindern in der großen Mehrzahl begünstige, ermögliche und verlängere.

Sexuelle Gewalt gegen Kinder, sagt Sabine Andresen, komme in der Familie vor, in Vereinen, Heimen oder in der Kirche. Und einer der zentralen Befunde der Kommission sei, dass eine weitverbre­itete Meinung gar nicht der Wahrheit entDass nämlich die betroffene­n Kinder oft selbst den Missbrauch verschweig­en, aus Scham, Angst vor Strafe oder Furcht vor dem Auseinande­rbrechen der Familie. „Betroffene berichten von Abwehrreak­tionen etwa in ihren Familien oder in Institutio­nen, wenn sie als Kinder oder Jugendlich­e versuchten, sexuelle Gewalt aufzudecke­n“, sagte Sabine Andresen. Den Opfern sei nicht geglaubt und Unterstütz­ung verweigert worden. Häufig sei ihnen sogar eine Mitschuld an den Taten gegeben worden, viele hätten Ausgrenzun­g erfahren.

Im Bericht von Kirsten steht der schlichte Satz: „Und keiner hat etwas gemacht.“Nicht der vom Krieg traumatisi­erte Vater, als er vom Missbrauch seiner Tochter durch den angesehene­n Ortsgeistl­ichen erfuhr. Nicht die Eltern der Freundinne­n, die Bescheid wussten, was sich im Pfarrhaus abspielte. Und schon gar nicht die katholisch­e Kirche, an die sich Kirsten wandte. Die Kirchenver­waltung versuchte laut Kirstens Schilderun­g sogar, gegen eine Zahlung von 20000 Euro ihr Schweigen zu erkaufen. Doch Kirsten wies das Angebot empört zurück. Rund 1700 Betroffene haben sich nach Angaben von Sabrina Andresen in den vergangene­n Jahren bei der Kommission gemeldet. Etwa 900 haben sich in Anhörungen offenbart, 300 schriftlic­h ihre Geschichte­n erzählt. Es sind erschütter­nde Zeugnisse des Leids von Kindern (zu 83 Prozent sind die Betroffene­n weiblich), die das Geschehen auch als Erwachsene nicht loslässt.

Eine repräsenta­tive Studie ist der Bericht der Kommission nicht, darauf weist die Vorsitzend­e ausdrückli­ch hin. Doch aus den Erkenntnis­sen lassen sich laut Sabine Andresen einige klare Empfehlung­en ableiten. Es bedürfe vor allem einer besseren Informatio­n der Öffentlich­keit. Im kommenden Jahr sei in Zusammenar­beit mit dem Familienmi­nisterium eine Aufklärung­skampagne geplant. Gestärkt und verbessert werden müsse die Jugendhilf­e, auch die Rolle der Juspreche: gendämter und der Familienge­richte müsse untersucht werden, um die Kapazitäte­n zum Schutz von Kindern und Jugendlich­en zu verbessern. In den kommenden Jahren werde sich die Kommission noch intensiver mit dem sexuellen Missbrauch von Menschen mit Behinderun­g, in der Kirche und im Sport konzentrie­ren. Es müsse sich noch viel bewegen in Staat, Vereinen und Institutio­nen, so das Fazit von Sabine Andresen, „um dem sexuellen Missbrauch von Kindern beizukomme­n“. Das fordert auch Kirsten: „Ich bin der festen Überzeugun­g, dass sich die Kirche und ihre Gemeinden ändern müssen, damit sich die Dinge, wie ich sie erleben musste, nicht wiederhole­n.“

Wie die Erlebnisse in der Kindheit das ganze Leben der Betroffene­n beeinträch­tigen, steht in den Berichten. Von Traumatisi­erung und Selbstmord­versuchen ist da zu lesen, von Depression und Schwierigk­eiten, anderen Menschen zu vertrauen. Der Bericht von Kirsten, die als Ministrant­in vom Pfarrer missbrauch­t wurde, ist einer von ganz wenigen, in dem am Ende ein wenig Hoffnung aufschimme­rt. „Seit einigen Jahren bin ich glücklich verheirate­t“, schreibt sie.

„Ich bin der festen Überzeugun­g, dass sich die Kirche ändern muss, damit sich die Dinge, wie ich sie erleben musste, nicht wiederhole­n.“

Kirsten, Opfer von Missbrauch

 ?? Foto: Georg Kirchner, dpa ?? Ort des Schreckens: Auf einem Campingpla­tz in Lügde im Kreis Lippe waren Kinder im großen Stil missbrauch­t worden. Fassungslo­s musste die Öffentlich­keit zur Kenntnis nehmen, dass dort über Jahre schwere Verbrechen begangen wurden, obwohl es immer wieder Verdachtsm­omente gegeben hatte.
Foto: Georg Kirchner, dpa Ort des Schreckens: Auf einem Campingpla­tz in Lügde im Kreis Lippe waren Kinder im großen Stil missbrauch­t worden. Fassungslo­s musste die Öffentlich­keit zur Kenntnis nehmen, dass dort über Jahre schwere Verbrechen begangen wurden, obwohl es immer wieder Verdachtsm­omente gegeben hatte.

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