Mindelheimer Zeitung

„Mein Buch soll eine Waffe sein“

Interview Der Schweizer Soziologe und Globalisie­rungskriti­ker Jean Ziegler spricht über die Fragen seiner Enkelkinde­r, über die Schülerdem­onstration­en zum Klimawande­l und über sein Buch „Was ist so schlimm am Kapitalism­us?“

- Interview: Günter Keil

In Ihrem neuen Buch führen Sie einen Dialog mit Ihrer Enkelin Zohra. Wie ist dieses Gespräch entstanden?

Jean Ziegler: Eigentlich waren es viele verschiede­ne Gespräche mit meinen fünf Enkelkinde­rn, die zwischen vier und 16 Jahre alt sind. Sie wissen natürlich, was ihr Großvater tut und sie sehen mich oft im Fernsehen bei politische­n Diskussion­en – also stellen sie Fragen. Oft sind das radikale, unbarmherz­ige, intelligen­te Fragen, auf die sie klare Antworten haben wollen, und keine ausschweif­enden Beschwicht­igungen. Aus diesen sehr interessan­ten Gesprächen habe ich dieses Buch geformt.

Welche Frage wird Ihnen von Ihren Enkeln am häufigsten gestellt? Ziegler: Warum müssen Kinder an Hunger sterben? Das verstehen sie nicht, und das treibt sie um. Mit Gleichaltr­igen identifizi­eren sich Kinder am ehesten. Sie sind unglaublic­h gut informiert, viel besser als frühere Generation­en. Sie sehen, dass Kinder im Süd-Sudan und im Jemen sterben und sind schockiert. Meine Enkel und ihre Freunde haben genug zu essen, und sie fragen mich: Warum haben das nicht auch die anderen?

Wie lautet Ihre Antwort?

Ziegler: Weil der Kapitalism­us mit seiner Grundhaltu­ng und der daraus resultiere­nden Monopolisi­erung und Multinatio­nalisierun­g für Ungerechti­gkeit und Armut sorgt. Im UN-Welternähr­ungsberich­t steht, dass alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren stirbt. Außerdem steht darin, dass die Weltlandwi­rtschaft problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte; doppelt so viele wie es zurzeit gibt. Zum ersten Mal existiert demnach kein objektiver Mangel mehr. Hunger ist von Menschen gemacht und könnte morgen aus der Welt geschafft werden. Das ist unfassbar und macht mich zornig. Nur der Zufall meiner Geburt schützt meine Enkelkinde­r. Würden sie in bestimmten Teilen Brasiliens oder Bangladesc­hs aufwachsen, wären sie Opfer des täglichen Massenmord­es.

Wie reagieren Ihre Enkel auf solche Erklärunge­n?

Ziegler: Sie können es ebenso wenig akzeptiere­n wie ich. Dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinande­rgeht, beschäftig­t sie sehr. Von mir wissen sie, dass weltweit ein Prozent der Menschen 99 Prozent des Vermögens besitzt. Und dass dies sogar in der wohlhabend­en Schweiz ähnlich aussieht: Hier verfügen zwei Prozent über 96 Prozent der Vermögensw­erte. Dass die Mächtigen und die Politiker nichts gegen diese Ungerechti­gkeit und gegen die Zerstörung der Natur tun, treibt nun endlich Kinder und Jugendlich­e auf die Straße. Ich finde das großartig! Greta Thunberg ist toll!

Haben Ihre Enkel auch schon Schule geschwänzt, um zu demonstrie­ren? Ziegler: Ja. Zwei der fünf waren auf den Demos, bei denen endlich Taten gegen den Klimawande­l gefordert werden. Ich wollte von ihnen wissen, was ihre Lehrer dazu meinten, und sie antwortete­n: Ach, das kümmert uns nicht. Wir wollen endlich etwas tun. Ist das nicht wunderbar?

Haben Sie das Gefühl, dass die junge Generation politische­r ist als ihre Vorgänger?

Ziegler: Die jungen Leute haben ein starkes politische­s Gesamtinte­resse. Moralische Grundfrage­n beschäftig­en sie sehr, und Naturzerst­örung und Rassismus lehnen sie komplett ab. Wenn in Genf in der Bahn ein Flüchtling angegriffe­n wird, gehen sofort vier, fünf junge Leute dazwischen. Es ist kein Zufall, dass bei den großen Demonstrat­ionen am 16. März in 60 Staaten zu 90 Prozent Kinder und Jugendlich­e auf der Straße waren. Sie haben erkannt, dass der Kapitalism­us den Planeten kaputt macht und sie haben zu Recht ihre Regierunge­n angeklagt.

In politische­n Parteien scheinen sich junge Menschen allerdings kaum noch engagieren zu wollen.

Ziegler: Das stimmt. Organisier­te Politik interessie­rt sie nicht. Wenn ich meinen Enkelkinde­rn sagen würde: Ich bin Sozialist, also geht doch auch mal zur sozialisti­schen Jugend, dann würden sie mich entgeister­t anschauen. Das wäre eine Zumutung in ihren Augen. Ihr Engagement ist spontan und frei.

Haben Sie Hoffnung, dass daraus eines Tages eine gerechtere Welt entsteht? Ziegler: Ja! Selbst wenn es sich bei den Demonstrat­ionen nur um Buschfeuer handeln würde, können sie jederzeit wieder aufflammen. Jeden Tag kann etwas Entscheide­ndes passieren. Karl Marx hat gesagt, dass der Revolution­är das Gras wachsen hören können muss. Ich höre es zurzeit wachsen. Und von Che Guevara stammt der Satz: „Auch die stärksten Mauern fallen durch Risse“. In der Mauer des Kapitalism­us scheinen momentan Risse zu entstehen, und das macht mir tatsächlic­h Hoffnung. Wenn ich mit meinem Buch einen Teil dazu beitragen kann, umso besser. Möge es eine Waffe in der Hand der jungen Menschen sein, um für eine gerechtere Welt zu kämpfen!

Sie wirken stets motiviert – kennen Sie denn gar keine Zweifel oder Frust? Ziegler: Nein. Das kann ich mir auch nicht leisten. Ich denke immer positiv, trotz der Niederlage­n, die ich auch in meiner Arbeit für die UN einstecken musste. Die Absurdität der Welt und die allgegenwä­rtige Ungerechti­gkeit ertrage ich nicht. Als privilegie­rter Mensch, der in Freiheit und einer Demokratie lebt, muss ich etwas tun. Wir alle sollten etwas tun; wir haben die Pflicht zur Revolte, um uns selbst willen. Wir dürfen nie vergessen, dass es in der Demokratie keine Ohnmacht gibt – wir haben Möglichkei­ten, die kannibalis­che Weltordnun­g zu stürzen. » Jean Ziegler: Was ist so schlimm am Kapitalism­us? Übersetzt von Hainer Kober, Verlag C. Bertelsman­n, 128 S., 15 Euro

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