Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (91)
DLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat.
ie letzten Funken von Würde, Selbstachtung, Anstand, Humanität oder wie die Schwindelworte sonst noch lauten, verlaufen sich, und alles wird schwarz. Aber ich schweife ab. Ich habe allerdings den Satz geprägt: Abschweifen heißt ein Thema ausschöpfen. Ich will auch bei meinen Familienerinnerungen nicht länger verweilen. Nur Geduld, ich komme schon vorwärts, nämlich zu mir. Vorher noch ein Axiom, teurer Mohl, und eines von allgemeiner Gültigkeit: In jedem Leben gibt es einen Augenblick, wo sich der Mensch nach den polaren Gegensätzen seiner Natur entscheiden kann. Wo demnach Shakespeare ebensogut ein genialer Räuber à la Robin Hood hätte werden können wie Dramenschreiber, Lenin ebensogut Chef der zaristischen Geheimpolizei wie der Vernichter des Systems. Möglicherweise wäre ich unter einem bestimmten Anstoß, der aus unerforschlichen Ursachen nicht erfolgte, ein jüdischer Führer, ein Luther des Judentums geworden. Statt dessen… na ja, davon rede ich eben. Unser äußeres Tun hängt von einem tiefen Dualismus ab, der uns eingepflanzt ist wie der Instinkt von rechts und links. Lassen Sie sich niemals erzählen, Mohl, daß ein Mensch unter gewissen Umständen nicht anders hätte handeln können, als er gehandelt hat. Es ist nicht wahr. Die Frage ist nur, wie weit man zurückgeht, um den Punkt zu finden, wo seine Freiwilligkeit noch intakt war. Ich kann immerhin mit einer Sorte von Erlebnissen aufwarten… langweile ich Sie auch nicht? Wirklich nicht? Schön. Worunter ich als Knabe schon wie ein Hund litt, das war die moralische Feigheit meiner Stammesgenossen. Daß sie sich zufrieden gaben mit ihrer Helotenexistenz und sich mit einem mythologisch verkünstelten Gefühl von Auserwähltheit trösteten, ja, das. Oder in dem ihnen gnädig eingeräumten Pferch die Herren spielten, vielmehr das Herrentum ihrer Herren nachäfften. Ich haßte sie, sämtlich. Ich haßte ihr Idiom, ihren Witz, ihre Denkungsart, ihren Geschäftsgeist, ihre spezifische Melancholie, ihre Anmaßung, ihre Selbstpersiflage. Ich zerbiß nachts mein Kopfkissen vor Wut, wenn ich an eine Schmähung, eine Zurücksetzung dachte, ob sie nun mir oder meinem Vater oder irgendeinem Juden überhaupt widerfahren war. Ich zitterte in der Schule vor Scham und Empörung, wenn nur das Wort Jude fiel, schon bei einfacher Feststellung, begreifen Sie das? Es war alles darin enthalten, in der Art, wie es ausgesprochen wurde, das Vorurteil, die Geschichtsfälschung, der eingefleischte Haß, dem die Jahrhunderte nichts von seiner Roheit und Giftigkeit geraubt hatten. Denn ich wußte Bescheid. (Er stieß mit dem Stock auf den Boden.) Mit neun Jahren wußt ich schon Bescheid, mit fünfzehn hatte ich ein gründliches Studium in dieser Hinsicht hinter mir und war jeder Disputation gewachsen. Aber mit Disputationen erschüttert man keine Tatsachen, auch die verworfensten nicht, in unserer Welt nicht mehr, und von allen Tatsachen gab es eine, die mir vollkommen unerträglich war, nämlich, daß ich von irgendeinem Gebiet des Lebens und Wirkens sollte ausgeschlossen sein. Was, ich? Ich mit meinen Gaben, mit meinem Verstand, mit der Glut in meinem Innern, ich sollte nicht, unter keinen Umständen, sagen wir beispielsweise: auf einem Ministerstuhl sitzen? Nein, unter gar keinen Umständen, Präsident einer wissenschaftlichen Akademie sein? Und das hieß, sich hoch versteigen, mein Lieber (er lachte in die Luft hinaus), das waren schon Phantasieprätensionen, mein Ehrgeiz durfte sich nicht einmal an eine Professur wagen. Unter keinen Umständen konnte ich zu der Geltung gelangen, die der mittelmäßigste Kopf, sofern er nur nicht das Femezeichen trug, als selbstverständlich zu beanspruchen hatte. Der Gedanke machte mich toll. Ich konnte forschen, konnte auf meine Weise lehren, konnte Werke schaffen, niemand würde mich mehr als üblich daran hindern, zuletzt würden sie mir ihre Anerkennung nicht vorenthalten und, wenn ich Wunderbares leistete, am Ende sogar ihre Bewunderung nicht, aber… im Tiefsten würden sie mir nicht glauben, im Tiefsten würden sie mich und meine Leistung leugnen, nur unter der stärksten Pression würden sie mir die Ehre erweisen, mit der sie sich untereinander verschwenderisch beschenken. (Er nahm den Schlapphut vom Kopf und setzte ihn sogleich wieder auf.) Aber das alles waren ja Überlegungen. Unmöglich, das Wesentliche wiederzugeben, das Gefühl: es ist mir versagt… ja was: versagt? einfach versagt, zu sein! mitzusein! dazusein! Denn ich konnte nur sein, damals wenigstens, ich konnte nur sein, wenn ich die Welt hatte, die vollständige Fülle der Welt, ohne Abzug und Abstrich, die ganze strahlende Breite geistiger Existenz. Darum fällt der Einwand, den Sie wahrscheinlich im stillen bereits gemacht haben, daß von allen diesen Gründen jeder einzelne genügt hätte, mich mit denen meines Stammes solidarisch zu erklären, aus den Widerständen doppelte Kraft zu ziehen, dieser Einwand fällt in sich zusammen. Wie gesagt, ich liebte sie nicht. Da ich sie nicht liebte, entband ich mich der Zugehörigkeit. Sie konnten mir für das, was ich entbehrte, keinen Ersatz bieten. Ich war kein Renegat, wenn ich sie verließ, ich gehorchte meiner Notwendigkeit. Ich liebte sie nicht, das ist nur die Hälfte der Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, daß meine Liebe drüben war, bei den andern. Kein seltener Fall: Der Zurückgestoßene verliert seine Seele an die, die ihn zurückstoßen. Ein sehr jüdischer Fall. Was ihm verwehrt ist, das ist die Verheißung des Juden, was er nicht hat, sein teuerster Besitz. Immer wieder das verlorene Paradies. Auch ein jüdischer Fall. Sündenfall. Dort haßte ich, hier liebte ich. Ich liebte ihre Sprache… ihre Sprache? meine! so gut, wie meine Augen mein sind… liebte ihre Geschichte, ihre Heroen, ihre Lieder, ihre Landschaften, ihre Städte. Ich liebte das alles tiefer, als sie selber es lieben, und verstand es besser als sie. Das ist keine Prahlerei, mein Sohn, es ist Schicksal. Im übrigen… ich habe den Beweis erbracht. Nun, gehen wir zurück. Angefangen hat es mit Legendenbildung. Als meine Mutter starb, eine einfache Frau, die noch an alten jüdischen Bräuchen gehangen hatte, machte ich sie zu einer Christin, Tochter eines abgedankten Militärs. Ich redete es mir so fest ein, daß es mir zum Faktum wurde, mit den überzeugendsten Einzelheiten versehen wie in einer russischen Erzählung. Dabei kam aber doch nur ein Mischblut zustande, ich wollte aber Vollblut sein, und indem ich einen heimlichen Ehebruch mit einem schlesischen Rittergutsbesitzer dazudichtete, schaltete ich den jüdischen Vater, der inzwischen auch das Zeitliche gesegnet hatte, bei meiner Erzeugung eigenmächtig aus. Es war kein Wagnis weiter. Die Natur hatte mich begünstigt, ich war blond, unverfälscht germanenblond (er lachte wieder unangenehm), mein Gesichtsschnitt, Sie können es nicht leugnen, ist unorientalisch, erinnerte schon in meiner Jugend an den bäurischen Typus bei uns. Abgesehen davon, der Wille formt das Antlitz.