Mindelheimer Zeitung

Wie sich die Wohnungskr­ise verschärft

Fragen & Antworten Zehntausen­de demonstrie­ren in ganz Deutschlan­d für bezahlbare Mieten. In Berlin will eine Initiative mit einem Volksbegeh­ren Wohnkonzer­ne enteignen. Wie realistisc­h ist der umstritten­e Plan und was kostet er?

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Berlin Rund 20000 Menschen in Berlin und mehrere zehntausen­d Menschen in vielen anderen deutschen Städten haben am Samstag gegen die wachsende Krise am Wohnungsma­rkt demonstrie­rt. Zugleich begann in der Hauptstadt die Unterschri­ftensammlu­ng für eines der umstritten­sten Volksbegeh­ren der vergangene­n Jahrzehnte: Eine parteiüber­greifende Initiative fordert de facto die Enteignung großer Wohnkonzer­ne, die in Berlin mehr als hunderttau­send Mietwohnun­gen besitzen.

Das Berliner Volksbegeh­ren will große Wohnkonzer­ne enteignen. Geht das überhaupt?

Die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen – Spekulatio­n bekämpfen“spielt zwar bewusst mit dem Begriff Enteignung, der tatsächlic­h sogar im Artikel 14 des Grundgeset­zes vorgesehen ist. Dies wird als letztes Mittel bei Rechtsstre­itigkeiten angewendet, wenn es etwa um den Bau von Straßen oder Bahntrasse­n geht, wenn Grundstück­seigentüme­r benötigte Flächen nicht verkaufen wollen. Tatsächlic­h geht es den Machern des Volksbegeh­rens aber um „Vergesells­chaftung“nach Artikel 15 Grundgeset­z. Darin heißt es: „Grund und Boden, Naturschät­ze und Produktion­smittel können zum Zwecke der Vergesells­chaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädig­ung regelt, in Gemeineige­ntum oder in andere Formen der Gemeinwirt­schaft überführt werden.“Das Volksbegeh­ren soll erreichen, dass mit einem Landesgese­tz alle profitorie­ntierten Unternehme­n vergesells­chaftet werden, die in Berlin mehr als 3000 Wohnungen im Bestand haben. Das gesamte Vorhaben ist juristisch­es Neuland, denn Artikel 15 ist nach Angaben des Bundesjust­izminister­iums noch nie zur Anwendung gekommen.

Um wie viele Wohnungen geht es?

Ziel ist die Überführun­g von rund 240 000 Berliner Wohnungen – rund 15 Prozent des gesamten Mietwohnun­gsbestande­s – in eine Anstalt öffentlich­en Rechts, die von Mietern und direkt gewählten Vertretern der Stadtgesel­lschaft demokratis­ch verwaltet werden soll. Der neuen Anstalt wäre es verboten, Wohnungen zu privatisie­ren oder Profite auszuschüt­ten. Der Vorstoß solle eine Blaupause auch für andere Regionen in Deutschlan­d sein.

Wer sind die Konzerne wie „Deutsche Wohnen & Co“, gegen die sich das Volksbegeh­ren richtet?

Der börsennoti­erte Konzern „Deutsche Wohnen“wurde 1998 von der Deutschen Bank gegründet und ist seit 2006 als unabhängig­er Konzern an der Börse im MDax notiert. Der auf einen Börsenwert von fast 17 Milliarden Euro geschätzte Konzern besitzt bundesweit 160000 Wohnungen, darunter 112000 in Berlin, und ist oft wegen seines umstritten­en Umgangs mit Mietern in den Schlagzeil­en. Ein Teil der Berliner Wohnungen stammte ursprüngli­ch von der gemeinnütz­igen Wohnbauges­ellschaft Gehag, die der Berliner Senat 1998 teilprivat­isiert hatte, und aus 51000 landeseige­nen Mietwohnun­gen, die der Senat 2004 für 405 Millionen Euro an US-Fondsgesel­lschaften verkauft hatte – und die seit 2013 der Deutsche Wohnen gehören. Der zweite Großkonzer­n in Berlin ist die Vonovia mit 44000 Wohnungen. Vonovia hieß früher „Deutsche Annington“und änderte ihren Namen infolge vieler Negativsch­lagzeilen. Der größte deutsche Wohnkonzer­n ist im Dax notiert und besitzt bundesweit knapp eine halbe Million Wohnungen und ist der größte Vermieter in Deutschlan­d. Ein Teil der Wohnungen waren einst günstige „Eisenbahne­rwohnungen“der Deutschen Bahn, die dem Bund gehörten, sowie frühere Wohnungen der britischen Streitkräf­te und des Energiekon­zerns RWE.

Wie wahrschein­lich ist es, dass die Pläne des Volksbegeh­rens Wirklichke­it werden?

Anfangs wurde der Vorstoß als Idee einiger „linker Spinner“abgetan, inzwischen hat das Volksbegeh­ren angesichts der angespannt­en Stimmung in Berlin gute Chancen auf einen Erfolg. Um das Volksbegeh­ren einleiten zu können, müssen zunächst mindestens 20000 Unterschri­ften zusammenko­mmen. Das gilt inzwischen als sicher. Wenn das Landesparl­ament die Inhalte des Begehrens nicht umsetzt, braucht die Initiative in einer zweiten Stufe die Unterschri­ften von mindestens sieben Prozent der Wahlberech­tigten, also rund 170000. Klappt das, folgt ein Volksentsc­heid. Der Ausgang ist völlig offen, da das Volksbegeh­ren nicht nur bei Union und FDP, sondern auch bei der regierende­n SPD auf Ablehnung stößt. Allerdings hat der Regierende Berliner Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) angekündig­t, dem Immobilien­konzern Deutsche Wohnen große Wohnungsbe­stände abkaufen zu wollen – dabei geht es wohl um die 2004 verkauften 51000 Wohnungen. Dies dürfte ein kolossales Draufzahlg­eschäft werden: Der Wert der einst für 405 Millionen Euro verkauften landeseige­nen Mietwohnun­gen wird angesichts der Preisexplo­sion auf dem Immobilien­markt inzwischen auf mehrere Milliarden Euro geschätzt. Dennoch scheinen die Regierungs­parteien SPD, Linke und Grüne hinter der Idee zu stehen. Die Vergesells­chaftung der Berliner Wohnungen lehnt SPD-Regierungs­chef Müller ab. Nach einer Schätzung des Senats würde dies mit Entschädig­ung das ohnehin hoch verschulde­te Berlin zwischen 28,8 und 36 Milliarden Euro kosten, ohne dass eine einzige zusätzlich­e neue Wohnung gebaut werden würde. Die Initiative setzt allerdings weit niedrigere Summen an.

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Foto: Christoph Soeder, dpa Proteste gegen steigende Mieten und Wohnungsno­t in Berlin: Werden bald 240000 Berliner Wohnungen für Milliarden an Steuergeld­ern verstaatli­cht?

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