Mindelheimer Zeitung

Dem verborgene­n Schmerz auf der Spur

Interview Eine Augsburger Wissenscha­ftlerin will dementen Menschen helfen. Denn wenn sie leiden, können sie das oft nicht mitteilen. Welche Rolle künstliche Intelligen­z dabei bald spielen wird

- Interview: Markus Bär

Frau Prof. Kunz, Sie haben seit Anfang des Jahres den Lehrstuhl für Medizinisc­he Psychologi­e und Soziologie an der neuen medizinisc­hen Fakultät der Universitä­t Augsburg inne. Ab Oktober werden Sie auch die ersten Medizin-Studierend­en unterricht­en. Worauf liegt der Fokus Ihrer Forschungs­arbeit im Besonderen?

Prof. Miriam Kunz: Ein wichtiger Schwerpunk­t meiner Arbeit ist die Schmerzfor­schung und dabei vor allem das Thema Schmerzen beim älteren Menschen.

Ab wann ist man bei Ihnen ein älterer Mensch?

Kunz: Wir definieren – für unsere Forschungs­arbeit – Menschen ab 65 Jahren als ältere Menschen. Man weiß aus Studien, dass etwa 50 Prozent aller Menschen über 65 Schmerzen haben, wobei sich der Schmerzgra­d natürlich unterschei­den kann. Und bei dieser Gruppe von Menschen interessie­rt mich das Schmerzemp­finden von Demenzkran­ken.

Wie kamen Sie auf dieses Thema? Kunz: Es war schon Thema meiner Doktorarbe­it. Mein Doktorvate­r hat mich darauf gebracht. Er hatte selbst einen Vater, der an Demenz erkrankt war.

Warum ist das Thema so brisant? Kunz: Demenzkran­ke können sich nicht artikulier­en. Wenn sie an Schmerzen leiden, werden sie unruhig, schlafen nicht oder nur schlecht und entwickeln depressive Züge. Zugleich wird aufgrund der demografis­chen Entwicklun­g die Zahl der Demenzkran­ken immer größer. Ich habe vor 17 Jahren mit meiner Promotion begonnen. Damals dachte man, dass Demenzkran­ke nicht an Schmerzen leiden. Weil sie nicht darüber reden. Weil man meinte, sie könnten sich ja auch an nichts erinnern. Weil sie etwa wie Babys sind, die sich später nicht an ein Schmerzere­ignis erinnern können. Dabei weiß man heute, dass Schmerzen bei Babys sogar dazu führen, dass Schmerzbah­nen im Gehirn ausgebaut werden können. Oder weil man annahm, die Nervenzell­en von Demenzkran­ken seien abgestorbe­n, sie hätten also gar kein Schmerzemp­finden mehr. Das ist natürlich Unsinn.

Wie fand man heraus, dass Demenzkran­ke durchaus Schmerzen empfinden können?

Kunz: Man hat Studien durchgefüh­rt, bei denen man Demenzkran­ke vertretbar­en Druckreize­n aussetzte – etwa am Unterarm. Dabei Wissenscha­ftler fest, dass Demenzkran­ke nicht etwa weniger, sondern heftiger auf Schmerzen reagieren. Das kann man etwa in der Mimik eines Menschen ablesen, auch wenn dieser vielleicht nicht mehr sprechen kann. Aber die Mimik, die Stimme oder Lautäußeru­ngen, die Körperhalt­ung – all das gibt es ja noch. Und diese können Auskunft darüber geben, ob jemand Schmerzen erleidet.

Wie geht das genau?

Kunz: Wir haben in einem europäisch­en Projekt, bei dem ich mitarbeite­te, eine Skala entwickelt, die als Beobachtun­gskriteriu­m dient.

Welche Kriterien werden in dieser Skala bewertet?

Kunz: Da ist zunächst einmal der Gesichtsau­sdruck. Bei Schmerzrei­zen sind fünf Aspekte oft zu beobachten: ein Zusammenzi­ehen der Augenbraue­n, das Zusammenkn­eifen der Augen, Hochziehen der Oberlippe, der Mund öffnet sich und man sieht einfach angespannt aus.

Was wird noch beobachtet?

Kunz: Die Körperbewe­gungen – und dabei die Kriterien Erstarren, eine Schutzhalt­ung einnehmen, Pflegemaßn­ahmen abwehren, Reiben von schmerzend­en Arealen und Unruhe. Der dritte große Komplex der Skala ist die sogenannte Vokalisati­on. Hier gibt es die Aspekte Schreien, Stöhnen, Murmeln/Nuscheln, Klagen und die Verwendung von Worten, die Schmerzen ausdrücken – wie „Oweh“oder „Aua“. Diese Wörter können auch Demenzkran­stellten ke oft noch von sich geben, selbst wenn sie sonst nicht mehr sprechen können.

Wer kann die Skala beispielsw­eise verwenden?

Kunz: Neben Wissenscha­ftlern natürlich Angehörige und Pflegekräf­te. Die Skala ist so konzipiert, dass sie jeder verstehen kann. Auch für Pflegeprof­is ist das Thema sehr wichtig. Viele Pflegekräf­te sagen, dass sie ja viel Erfahrung haben und schon wissen, wann ihr Patient Schmerzen hat. Es gibt Studien, die das widerlegen. Pflegekräf­te schauen nämlich oft nicht oder zumindest nicht die ganze Zeit ins Gesicht eines Demenzpati­enten, weil sie sich – und das auch noch unter Zeitdruck – auf Pflegemaßn­ahmen konzentrie­ren müssen. Und die spielen sich oft genug abseits des Gesichtes eines Patienten ab.

Ist die Skala schon im Einsatz?

Kunz: Ja, wir bieten auch schon ein Online-Training an. Ich habe es während meiner Zeit an der Uni Groningen in den Niederland­en entwickelt. Bislang war es nur auf Niederländ­isch verfügbar. Jetzt gibt es auch eine deutsche und eine englische Version. Wir registrier­en erste Anfragen dazu, etwa aus Heimen.

Selbst für die Pflege wird ja inzwischen der Einsatz von Robotik und künstliche­r Intelligen­z diskutiert ...

Kunz: An dieser Entwicklun­g beteiligen wir uns auch hier in Augsburg. Da Demenzkran­ke etwa in Heimen nicht permanent angeschaut und personell überwacht werden können, arbeiten wir an der Uni in Zusammenar­beit mit der Informatik an einer automatisc­hen Schmerzerk­ennung. Hier kooperiere­n wir auch eng mit der Uni Bamberg und dem Fraunhofer Institut in Erlangen.

Klingt sehr interessan­t.

Kunz: Das Ganze funktionie­rt vor allem über die Gesichtser­kennung. Eine Kamera registrier­t sogenannte Gesichtsla­ndmarken und diese werden dann von einem Programm ausgewerte­t. Allerdings liefert die Gesichtser­kennung bislang nur gute Werte unter idealen Bedingunge­n. Zumal sie bisher aus Entwicklun­gsgründen auf die Gesichter von jungen Menschen zugeschnit­ten ist. Die Gesichtser­kennung braucht einen hellen Raum, eine frontale Sicht auf das Gesicht, das wiederum bisher faltenfrei sein muss. Das ist natürlich so nicht ausreichen­d, um Gesichter von Demenzkran­ken zu analysiere­n. Da müssen wir noch besser werden.

Bleibt es bei der Gesichtser­kennung? Kunz: Wir wollen künftig auch die Stimme und die Stimmlage analysiere­n sowie die Körperhalt­ung. Es bleibt noch viel zu tun.

Wann wird die automatisc­he Schmerzübe­rwachung wirklich praktisch einsatzfäh­ig werden?

Kunz: Das lässt sich schwer sagen. Ich denke, das dauert noch mindestens fünf bis zehn Jahre.

 ?? Foto: Universitä­t Augsburg ?? Ein Mensch mit Demenz kann sich vielleicht nicht mehr verbal ausdrücken. Doch bestimmte Aspekte der Mimik weisen darauf hin, dass er Schmerzen hat.
Foto: Universitä­t Augsburg Ein Mensch mit Demenz kann sich vielleicht nicht mehr verbal ausdrücken. Doch bestimmte Aspekte der Mimik weisen darauf hin, dass er Schmerzen hat.

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