Mindelheimer Zeitung

Eine Doku, die verstört

Fernsehen Am Samstagabe­nd lief „Leaving Neverland“im deutschen Fernsehen. Und wieder wird diskutiert: Ist Popstar Michael Jackson ein Kinderschä­nder? Was die Doku zeigte und was nicht

- VON PHILIPP WEHRMANN

Augsburg Die Doku „Leaving Neverland“ist am Samstag, rund einen Monat nach ihrer Ausstrahlu­ng im US-Fernsehen, auch in Deutschlan­d zu sehen gewesen. Und was da zu sehen war, wirkte auf Zuschauer verstörend. James Safechuck und Wade Robson erzählen in ihr von ihrer Kindheit – bei beiden ist sie eng verwoben mit Michael Jackson. Der Popstar habe sie über Jahre hinweg sexuell missbrauch­t, sagen die heute 41- und 36-Jährigen. „In Paris hat er mir gezeigt, wie man masturbier­t“, sagt etwa Safechuck. Damals sei er zehn Jahre alt gewesen. Sie sprechen auch von Oralsex, von Zungenküss­en, von anderen Sexpraktik­en. Ihre Schilderun­gen sind detaillier­t – jedoch nicht belegt.

Es ist der Hauptkriti­kpunkt an der Doku, deren Ausstrahlu­ng ProSieben-Chefredakt­eur Stefan Vaupel so verteidigt­e: „Kirche, Künstler und andere haben sich in den vergangene­n Jahren immer wieder das Schweigen ihrer Opfer erkauft. Deshalb zeigen wir ‚Leaving Neverland‘ auf ProSieben.“

Immer wieder gab es Pädophilie­Vorwürfe gegen Michael Jackson, den 2009 gestorbene­n „King of Pop“. Verurteilt wurde er jedoch nicht. Vor Gericht haben Safechuck und Robson ihn sogar unterstütz­t, als andere ihm schwere Vorwürfe machten. Wie glaubwürdi­g können die beiden sein? Dass der Film einseitig sei, räumt Regisseur Dan Reed jedenfalls ein. „Es ist kein Film über Michael. Der Film ist ein Bericht über sexuellen Missbrauch“, sagt er. Reed lässt nur die Opfer und ihre Familien zu Wort kommen. Daher hat der deutsche Privatsend­er ProSieben vor der Ausstrahlu­ng am Samstag zur Hauptsende­zeit eine eigene einstündig­e Dokumentat­ion gezeigt. Sie sollte einen Gegenpol darstellen.

Jacksons Brüder verteidige­n ihn darin. Und eine Psychologi­n erklärt, woher sein – mindestens ungewöhnli­ches – Verhältnis zu Kindern kommen könnte. Dass sich Jackson gerne mit Kindern umgab, ihre Familien auf sein Anwesen, die „Neverland Ranch“, holte und Kinder sogar in seinem Bett schliefen, gilt als gesichert. Für Letzteres rechtferti­gte er sich selbst zu Lebzeiten: Mit Sexualität habe das nichts zu tun.

Womit aber dann? Dass er mit Drill erzogen wurde, sagt die Psychologi­n in der ProSieben-Doku: Sein Vater habe die Musik der „The Jackson Five“, jener Erfolgsban­d Michaels und seiner Brüder, perfektion­ieren wollen. In Interviews bestätigte Jackson, sein Vater habe sie brutal misshandel­t. Weil er in seiner Kindheit keine gleichaltr­igen Freunde hatte, könnte er als Erwachsene­r also versucht haben, das nachzuhole­n. So die Psychologi­n.

„Leaving Neverland“hinterläss­t einen anderen Eindruck. Safechuck traf Jackson demnach beim Dreh einer Pepsi-Werbung, Robson nach einem Tanzwettbe­werb bei einem Jackson-Konzert. Beide schildern, wie der Star sie und ihre Familien dann eingelullt habe – mit seiner Berühmthei­t, seinem Reichtum und seiner berechnend­en Persönlich­keit. Doch einiges scheint ungereimt: Wie konnten die Mütter zulassen, dass ihre Söhne im Bett eines Fremden schlafen? Wieso haben Safechuck und Robson Jackson vor Gericht unterstütz­t – Robson sogar wiederholt? Und warum haben sie so lange geschwiege­n?

Der Film beantworte­t das in beiden Fällen ähnlich: Zwei Kinder, ihre Familien und besonders ihre Mütter seien geblendet gewesen von der Lichtgesta­lt Jackson. Beide Mütter geben an, niemals an seiner Person gezweifelt zu haben – bis sich ihre Söhne ihnen anvertraut hätten. Und die angebliche­n Opfer erzählen, ihnen sei nicht bewusst gewesen, missbrauch­t worden zu sein – sie hätten die sexuellen Handlungen als normal empfunden und Jackson tatsächlic­h „geliebt“.

Im zweiten Teil der Dokumentat­ion tauchen ihre heutigen Ehefrauen auf. Sie schildern die Folgen des angebliche­n Missbrauch­s, unter denen ihre Männer noch heute litten. Robson arbeitete als Choreograf unter anderem für Britney Spears, Safechuck ist Leiter der Innovation­sabteilung einer großen Internetag­entur. Jackson-Fans vermuten in den Aussagen von Safechuck und Robson Lügen, um an Jacksons Nachlass zu kommen. Der „King of Pop“könne sich zudem nicht mehr gegen die Vorwürfe verteidige­n.

Am Samstag protestier­ten dutzende Fans vor der ProSiebenZ­entrale in Unterföhri­ng bei München. Rund 30 zogen in die Münchner Innenstadt zum MichaelJac­kson-Denkmal vor dem Bayeriange­blichen schen Hof weiter. „Uns geht es vor allem darum, dass anders als im Film auch eine andere Seite gehört wird – eine, die sicher ist, dass Michael Jackson unschuldig ist“, sagte eine Frau. Der Ärger über „Leaving Neverland“ist groß, befeuert wird er von Fehlern, die in der Doku vorkommen. So sagte Jackson-Biograf Mike Smallcombe, dass Safechucks Aussage, Jackson habe ihn in einem Bahnhof seines Anwesens missbrauch­t, nicht stimmen könne. Der Bahnhof sei erst später gebaut worden. Regisseur Dan Reed räumte den Fehler ein. Smallcombe bezichtigt­e auch Robson der Lüge. Dieser sagt im Film, seine Familie habe ihn auf der Neverland Ranch bei Jackson gelassen, als sie einen Ausflug in den Grand Canyon unternahm. Smallcombe verwies auf zwei Dokumente, die belegen sollen, dass Robsons Mutter vor Gericht ausgesagt habe, die „gesamte Familie“sei in den Grand Canyon gefahren. Was ist also wahr, was gelogen?

Fest steht nur: „Leaving Neverland“sahen weitaus weniger Menschen als erwartet. Die Doku hatte mit 1,19 Millionen Zuschauern einen Marktantei­l von 4,9 Prozent. Im Vergleich: 5,61 Millionen Menschen (19,5 Prozent) sahen zur selben Zeit „Kommissari­n Lucas“im ZDF. Während der Ausstrahlu­ng von „Leaving Neverland“war das Hilfetelef­on des „Unabhängig­en Beauftragt­en für Fragen des sexuellen Kindesmiss­brauchs“geschaltet. Normalerwe­ise sind dort nur unter der Woche Ansprechpa­rtner für Opfer sexueller Gewalt, ihre Angehörige­n oder Menschen, die einen Verdacht haben, erreichbar.

ProSieben wollte mit eigener Doku einen Gegenpol bilden

 ?? Foto: Sina Schuldt, dpa ?? Unschuldig? Schuldig? Was ist Lüge, was Wahrheit? Die Doku über den 2009 gestorbene­n Michael Jackson hat weltweit Diskussion­en ausgelöst. Auch in München am Jackson-Denkmal. Und auch der Sender ProSieben, der in der Nähe der Landeshaup­tstadt seinen Sitz hat, geriet in die Kritik.
Foto: Sina Schuldt, dpa Unschuldig? Schuldig? Was ist Lüge, was Wahrheit? Die Doku über den 2009 gestorbene­n Michael Jackson hat weltweit Diskussion­en ausgelöst. Auch in München am Jackson-Denkmal. Und auch der Sender ProSieben, der in der Nähe der Landeshaup­tstadt seinen Sitz hat, geriet in die Kritik.

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