Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (94)
ALeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat.
ber ich war ein Schauspieler, ich mußte spielen, und wenn ich nicht mit vollendeter Kunst, mit der letzten Hingabe spielte, so konnt ich einpacken. Schauspieler: Stoßen Sie sich nicht an dem Wort. Nehmen Sie es nicht in einem plebejischen Sinn, vergessen Sie nicht, daß es ein Jahrhundert her ist, daß Goethe den Wilhelm Meister und das Gedicht auf Miedings Tod geschrieben hat, und mehr als hundertfünfzig Jahre seit Lichtenbergs Briefen über Garrick. Seitdem ist der Schauspieler zum Angestellten von Industriekonzernen herabgesunken und seine Figur eines der Pappendeckelideale des Kleinbürgertums geworden. Das nebenbei. Ich erinnere mich, daß ich einmal eine ganze Nacht lang mit Maurizius darüber debattierte. Er verstand mich nicht. Er war von einer Dummheit in dem Punkt, zum Tollwerden. Natürlich war ich ein Schauspieler, natürlich. Und er war keiner, o Gott, wie war er keiner! Daß ich es war, hat mich ruiniert, daß er es nicht war, hat ihn ruiniert…“ „Wieso?“fragte Etzel atemlos vor Neugier, „erklären Sie mir vor allem, wieso waren Sie ein Schauspieler?“Unwillkürlich machte er ein paar Schritte hinter dem stelzenden Warschauer her, was so lächerlich aussah wie die bekannten Karikaturen von Eisele und Beisele. „Jede ungewöhnliche Geistes- und Charakterleistung beruht auf einer sublimierten Verwandlungskunst“, dozierte Warschauer. „Halten Sie sich doch vor Augen, welche Wissensgebiete ich zu beherrschen hatte, die heterogensten Disziplinen, Philosophie, Theologie, Nationalökonomie, Geschichte, Sprachwissenschaften, Staatsrechtslehre, jede von innen her, von ihrer Idee aus; daß ich von vornherein entschlossen war, mich keiner von ihnen als Melkkuh und Amt- und Titelfabrik zu bedienen, aus wohlerwogenen Gründen, wie ich Ihnen bereits angedeutet, da ich ja höher hinauswollte; daß ich infolgedessen lavieren, nicht nur meine eigene Person stets an der richtigen Stelle zur stärksten Wirkung bringen, sondern auch die Bewunderer, die Anhänger, die Boten, die Proselytenmacher mit genauester Berechnung ihrer Kräfte und Talente unterrichten, verteilen, anfeuern mußte, daß ich dabei beständig in einem Netz verwickelter Interessen stand wie ein Ordensgeneral, denn nach meinen damaligen Begriffen ging es um was Ungeheures. Eine mächtige Partei zählte auf mich, der Kaiser war auf meine Person aufmerksam gemacht worden, der Vatikan schickte seine stillen Unterhändler zu mir, und bedenken Sie nun, last not least, daß ich bei alledem noch dafür zu sorgen hatte, meine frühen Spuren zu verwischen, meinen Ursprung zu verschleiern, daß ich sozusagen immer einen dunklen, metaphysischen Rest von schlechtem Gewissen in mir zu beseitigen hatte, der meine reine menschliche Unbefangenheit mir selbst zuletzt als das Produkt einer Anstrengung, wenn nicht einer Qual verdächtigte. Summieren Sie das alles und leugnen Sie dann, daß es nichts Geringeres war als ein Tanz auf einer Turmspitze… Jener hingegen… keine Ahnung! im warmen Nest. Keinen Begriff. Von alleine entstanden. Die Lilie auf dem Feld. Der Mühelose. Leonhart der Mühelose. Hatte er nötig, zu spielen? Gab es für ihn eine Rolle? Was wußte er von dem Stück, in dem er auftrat, da er doch gar nicht ,auftrat‘, sondern sich ,gehen ließ‘? Gehen ließ! Der Mühelose – ließ sich gehen. Hatte seinen Platz an der Table d’hôte, sein Billett lag immer an der Kassa. Die Wissenschaft? Ein Basar, aus dem man sich versorgt. Mit kostspieligen Sachen natürlich, denen man die Massenherstellung schwer ansieht. Kenner sind ja selten, und man muß schon Pech haben, wenn man sie nicht hinters Licht führen kann. Die Kunst? Edelbetrieb. Die Arbeit? Adelt bekanntlich. Nur vor das Vergnügen haben die Götter den Schweiß gesetzt. Und vor die Liebe den Einsatz eines Herzens, das… nichts einzusetzen hat. Die Null in der Null.“Er lachte gallig und seltsam dröhnend auf. „Ich kann trotzdem nicht begreifen“, wagte Etzel, der in grüblerischer Haltung an der Schiebetür lehnte, einzuwenden, „grade weil Sie so über ihn urteilen, will mir’s nicht in den Kopf, daß sich da ein Gegensatz bilden konnte, zwischen Ihnen und ihm. Wie war denn das möglich? Der Mühelose… ja. Aber warum denn gerade er? Hundert andere, so scheint mir’s wenigstens, hätten es ebensogut sein können. Da muß doch… jetzt sag ich was, Professor, aber fahren Sie mich nicht an…“„Nun?“„Ich meine, da muß doch … darf ich’s sagen?“„Keine Angst, Mohlchen. Was muß da doch…?“„Da muß doch die Fräulein Jahn schuld gewesen sein. Schuld… das klingt so dumm… Veranlassung mein ich…“Warschauer hatte sein undeutbares Grinsen. „Oh! is that so?“travestierte er die amerikanische Floskel. „I wonder. Clever boy. Never in my life I saw such a clever boy.“
Er nahm sein hahnenhaftes Marschieren wieder auf.
Elftes Kapitel
Langes Schweigen. Warschauer schien mit sich zu Rate zu gehn. Vermutlich machte ihn die Kühnheit des Knaben betroffen. Was sollte er dahinter suchen? Seinem erfahrenen Blick konnte die eigentümliche Unschuld nicht verborgen bleiben, mit der der Junge nun schon zum zweitenmal jenen Namen ausgesprochen hatte. Ahnungslos im Grunde, bei aller vorgeblichen Sachkenntnis und kuriosen Trockenheit. Wie man sich auf eine interessante Figur in einem Theaterstück bezieht, deren Berühmtheit vorausgesetzt werden darf. Oder wie ein Detektiv zuerst durch allerlei Ablenkungen die Aufmerksamkeit seines Opfers irreführt, um ihm dann mit einstudierter Kälte das schlagendste Indiz ins Gesicht zu schleudern. Putzig und ridikül. Als ob er, Warschauer, etwas zu fürchten hätte. Er hatte nicht das geringste zu fürchten. Daß er sich in Berlin niedergelassen, um eine Existenz von beinahe schattenhafter Verborgenheit zu führen, beruhte auf seinem freien Entschluß, er stand nicht unter Verfolgung, er hatte keinen Grund, Nachforschungen zu scheuen, es lag nichts gegen ihn vor. Das Recht, seinen ursprünglichen Namen wieder anzunehmen, hatte er „drüben“erworben, was ihn dazu bestimmt hatte, hing aufs engste mit der Katastrophe zusammen, die er als seinen „europäischen Bankrott“bezeichnete (der aber nur das Vorspiel zu einem viel größeren Bankrott gewesen sei). Er könne, setzte er lebhaft auseinander, sein bisheriges Leben in dieser Hinsicht geradezu in vier deutlich voneinander geschiedene Perioden einteilen: die jüdische, die christlich-deutsche, die überseeisch-internationale und die gegenwärtige, für die er einen passenden Titel noch nicht habe. Vielleicht falle seinem liebenswürdigen Freund Mohl einer ein. Die Umkehr etwa. Die regenerative Umkehr. Es sei außerordentlich merkwürdig. Er empfehle sich diversen modernen Schriftstellern als Modell für einen Proteus. Er sei sogar in der Lage, ihnen Aufschlüsse über die heutige Weltverfassung zu geben, mit denen sie ihr Glück machen könnten. Er selbst habe in dem Punkt resigniert. Es lohne nicht.