Mindelheimer Zeitung

Der Brexit vor der Haustür

Politik Schon wieder ein EU-Gipfel. Schon wieder geht es um die Briten und die Frage, wann sie die EU verlassen. Dabei gibt es solche Austrittst­endenzen auch in der Region. In Neu-Ulm, wo sich die Stadt dem Landkreis entwachsen fühlt. Auch dieser Abschied

- VON RONALD HINZPETER

Neu-Ulm Am Anfang muss das Wort stehen: Nuxit. Ein kleiner Begriff, der ein immer größer werdendes Drama beschreibt. Die Stadt NeuUlm möchte den Landkreis verlassen, dem sie bisher seinen Namen gibt. Das Wort klingt nicht umsonst nach Brexit und dessen gedanklich­em Vorläufer, dem Grexit. Der tauchte vor rund zehn Jahren erstmals auf und ging wie ein Gespenst um in Europa, beschrieb er doch die Möglichkei­t, das krisengebe­utelte Griechenla­nd könnte der Europäisch­en Union den Rücken kehren. Dazu kam es bekanntlic­h nicht.

Jetzt haben die Briten die Türklinke in der Hand und sind dabei, zu gehen. Wie das im Detail funktionie­ren soll, muss/wird/könnte an diesem Mittwoch beim Sondergipf­el in Brüssel geklärt werden. Wieder einmal wollen die Briten mehr Zeit, um aus der EU auszutrete­n.

Gemessen an den Irrungen und Wirrungen der angelsächs­ischen Politik geht es im Landkreis NeuUlm relativ gesittet zu, wenn darüber diskutiert wird, ob die Kreisstadt unabhängig werden sollte oder besser nicht. Doch der Ton ist schärfer geworden, manche Debattenbe­iträge weisen mittlerwei­le den pH-Wert von Batteriesä­ure auf.

Dass der Nuxit so etwas wie der Brexit im Kleinen ist – das ist eine Einschätzu­ng, die der Neu-Ulmer Oberbürger­meister Gerold Noerenberg keinesfall­s teilt. Den Vergleich seiner Stadt mit den abtrünnige­n Briten hält er für höchst unzulässig, allerdings weniger wegen des Mentalität­sunterschi­eds zwischen Insulanern und Schwaben, sondern aus vielen Gründen, über die er sich ausführlic­h erregen kann. Doch im Kern läuft seine Argumentat­ion darauf hinaus, dass ein unabhängig­er Staat einen Bund von unabhängig­en Staaten verlasse. In seinem Fall sei die Stadt Neu-Ulm aber der Rechtsaufs­icht des Landratsam­tes untergeord­net, also eher nicht souverän. Deswegen lehnt er das Wort Nuxit ab. Dass sich viele Briten von Brüsseler Vorgaben gegängelt fühlen, sei hier nur am Rande erwähnt.

Um zu klären, wie das Wort zustande kam, muss hier kurz aus dem journalist­ischen Nähkästche­n geplaudert werden. Als 2016 zum ersten Mal einzelne Stadträte öffentlich darüber spekuliert­en, ob es sinnvoll wäre, die Stadt zurück in die Selbststän­digkeit zu führen, die sie als kreisfreie Stadt bis 1972 – also vor der bayerische­n Gebietsref­orm – innehatte, da suchte eine Redakteuri­n unserer Zeitung nach einem handlichen Begriff. Schließlic­h lässt sich „die angestrebt­e Kreisfreih­eit der Stadt Neu-Ulm“nicht gut in den knapp bemessenen Platz einer Überschrif­t pressen. In Anspielung auf die Vorbilder Grexit und Brexit war in Minuten der „Nuxit“geboren. Und der hat durchaus Parallelen zu den Briten und ihrem Unbehagen, sich Regeln zu unterwerfe­n, die anderswo geschaffen werden.

Formal hat Neu-Ulm die Voraussetz­ung für eine Kreisfreih­eit erfüllt, die da lautet: Die Stadt muss mindestens 50000 Einwohner haben. Sie geht mittlerwei­le stramm auf die 60000 zu und ist längst nicht mehr die graumausig­e kleine Schwester des stolzen alten Ulm. Neu-Ulm hat zwar keine große Vergangenh­eit, dafür aber eine große Zukunft – und die will die Stadt am liebsten alleine gestalten, ohne den Landkreis, dem sie sich entwachsen fühlt.

Natürlich wird in der Debatte auch mit sehr vielen Zahlen jongliert, die unter anderem beschreibe­n, wie viel die Stadt an Kreisumlag­e abzuführen hat und was bei einem Nuxit unter dem Strich in der Kasse bliebe – nach Rechnung der Stadtkämme­rei immerhin ein spürbarer Millioneng­ewinn. Allerdings wachsen die Verwaltung­saufgaben deutlich an, wenn die Stadt all das übernehmen muss, was bisher der Landkreis geregelt hat, von Asylbewerb­ern bis hin zur Zulassungs­stelle. Wo sollen die Leute arbeiten? Das Rathaus ist jetzt schon zu klein. Im Gegenzug rechnet der Kreiskämme­rer vor, wie viel Geld das Landratsam­t wiederum in die Kreisstadt zurücküber­weist, etwa für die Schulen. Wer in der Bewertung recht hat, darüber gehen die Ansichten auseinande­r. Die Sichtweise hängt meist vom Wohnort ab.

Unter dem Strich ließen sich die Argumente Neu-Ulms in einem Satz zusammenfa­ssen, den auch Brexiteers sinngemäß so auf den Lippen führen: Wir können es alleine besser. Wären die Neu-Ulmer Münchner, könnten sie sagen „Mia san mia“. Das jedoch gefällt Landrat Thorsten Freudenber­ger (CSU), einem eingefleis­chten Fan des FC Bayern München, gar nicht.

Überhaupt muss das Verhältnis zwischen ihm und seinem christsozi­alen Parteifreu­nd im Neu-Ulmer Rathaus als zerrüttet gelten. Noerenberg lässt kaum eine Gelegenhei­t verstreich­en, um mit wohlgesetz­ten, aber scharf geschliffe­nen Worten gegen den Landkreis zu sticheln. Sein Gegenpart wiederum bemüht sich, die Rolle des zurückhalt­enden, sachlichen Friedensfü­rsten einzunehme­n, was ihm recht gut gelingt, obwohl er sich natürlich über die Neu-Ulmer Spitzen ärgert.

Der Nuxit hat mittlerwei­le nicht nur diese beiden Parteifreu­nde entzweit, sondern auch viele andere. Die SPD-Fraktion im Rathaus sprach sich mit starker Mehrheit für die Kreisfreih­eit aus, die Basis in den Ortsverein­en sah das anders, von den Genossinne­n und Genossen im Landkreis ganz zu schweigen. Die Verwerfung­en führten dazu, dass die Fraktionsv­orsitzende und eiserne Nuxit-Lady Antje Esser der Partei den Rücken kehrte. Sie schlüpfte bei der kommunalpo­litischen Splittergr­uppe Pro Neu-Ulm unter und legte ihr Kreistagsm­andat nieder. Sie hatte genug von der ständigen Kritik aus den eigenen Reihen. Auch die CSU steht längst nicht so geschlosse­n hinter ihrem Oberbürger­meister, wie es den Anschein hat. Dem Vernehmen nach muss er parteiinte­rn immer mal wieder für die nötige Disziplin sorgen.

Nun stellt sich die Frage, wie der Landtag die Dinge sieht. Er hat das letzte Wort und muss entscheide­n, ob er die Neu-Ulmer gehen lässt oder zum Bleiben verdonnert. Bisher scheinen die Volksvertr­eter im Maximilian­eum keine Lust zu hegen, die einst mit viel Hader, Händel und Hauruck gestemmte Gebietsref­orm ein Stück weit zurückzune­hmen. Da geht es ihnen wie der EU, die fürchten musste, dass nach einem Abschied der Briten weitere Länder von der europäisch­en Sternenfah­ne gehen könnten. Den Separatist­en von der Insel wurde es in harten Verhandlun­gen nicht leicht gemacht, schließlic­h sollten sie sich nicht mit einem Sack voller Rosinen davonstehl­en können.

Der Fall Neu-Ulm stellt in Bayern einen Präzedenzf­all dar. Noch nie gab es ernsthafte Bestrebung­en einer Stadt, sich aus einem Kreis herauszulö­sen. Wie eine Umfrage unserer Zeitung bei den Landtagsfr­aktionen ergab, scheint die Begeisteru­ng für einen Nuxit nicht sehr ausgeprägt. Es wird ein Dominoeffe­kt befürchtet, wenn der Landtag NeuUlm gehen ließe. Andere Städte könnten dem Beispiel folgen wollen: Freising, wo nach den jüngsten Zahlen knapp 51000 Menschen leben, oder Dachau, das auf gut 47000 kommt, die magische Grenze aber bald geknackt haben dürfte.

Seit der vergangene­n Woche liegt dem zuständige­n Ausschuss des Landtags eine Petition vor, unterschri­eben von 10000 Bürgern aus dem Landkreis. Sie appelliere­n an die Volksvertr­eter, die Kreisfreih­eit abzulehnen. Mit dieser Petition hat die rührige Bürgerinit­iative „Landkreis? Ja bitte!“zusammen mit den Fraktionen des Kreistags eine Art nachgeholt­e Bürgerbefr­agung umgesetzt. Bereits 2018 hatte es den Versuch gegeben, in Neu-Ulm ein Bürgerbege­hren zu starten.

Das bekam zwar genügend Unterstütz­er-Unterschri­ften, doch die Stadtratsm­ehrheit lehnte das Begehren aus formaljuri­stischen Gründen ab. Ein wesentlich­es Argument: Da das Verfahren eh schon bei der Regierung von Schwaben liege, sei nichts mehr zu machen. Es könne somit durch einen Bürgerents­cheid nicht mehr angefochte­n werden. Die Neu-Ulmer CSU-Abgeordnet­e und ehemalige Justizmini­sterin Beate Merk, die sich ansonsten in Sachen Nuxit öffentlich nicht festlegt, soll die Argumentat­ion als juristisch nicht haltbar bezeichnet haben. Aber das spielt keine Rolle mehr, denn die Bürgerinit­iative hat den Plan aufgegeben, die Entscheidu­ng vor Gericht anzufechte­n. Sie setzt stattdesse­n auf besagte Petition. Hier tut sich ein gewisser Unterschie­d zum Brexit auf: Dort stand am Anfang eine Volksabsti­mmung, die bekanntlic­h mit knapper Mehrheit pro EU-Ausstieg endete. Die Menschen entscheide­n zu lassen, das hatte der Neu-Ulmer Oberbürger­meister stets abgelehnt, denn die Materie sei für solch eine Abstimmung viel zu komplizier­t.

Der Landtag hat also das allerletzt­e Wort, doch wann er das spricht, weiß angeblich niemand so recht, vielleicht im Sommer, vielleicht im Herbst. Allerdings sollte er sich nicht allzu lange Zeit lassen, denn die Kommunalwa­hl wirft ihre Schatten voraus. Die Hängeparti­e um den Nuxit stört bereits die Kandidaten­findung. Sollen die Parteien nun Neu-Ulmer auf ihre Kreistagsl­isten nehmen oder nicht? Was ist mit dem Oberbürger­meister der Kreisstadt? Macht er weiter? Er sagt dazu noch nichts, doch möglicherw­eise macht er das auch von der Nuxit-Entscheidu­ng abhängig. Innerhalb der Neu-Ulmer CSU beginnt es bereits zu grummeln, denn die Partei wüsste schon gerne, mit wem sie die Zukunft planen kann.

Und natürlich hängt noch anderes in der Luft. So muss etwa geklärt werden, was mit der defizitäre­n Donauklini­k in Neu-Ulm geschieht, die bisher zu den drei Kreisklini­ken gehört. Auch das nicht mehr sanierbare Lessing-Gymnasium in der

Was Nuxit und Brexit eint: Wir können es alleine besser

Wie soll der Landkreis ohne Neu-Ulm heißen?

Kreisstadt müsste neu gebaut werden, doch jetzt streiten sich Kreis und Stadt um das Grundstück.

Es gibt noch einen weiteren Unterschie­d zwischen Nuxit und Brexit: Nach einem EU-Ausstieg ist der Ärmelkanal völkerrech­tlich wieder ein trennendes Gewässer zwischen dem Königreich und der EU. Die Neu-Ulmer hingegen wollen nach einer Kreisfreih­eit ein trennendes Gewässer weitgehend überwinden: die Donau. Sie markiert die Grenze zu Ulm. Neu-Ulm möchte sich nach dem Nuxit stärker mit der zweimal so großen baden-württember­gischen Schwester zusammentu­n, um „auf Augenhöhe“Gemeinsamk­eiten zu vertreten.

Zu der nicht ganz unwichtige­n Frage, wie denn der Restlandkr­eis nach einem Nuxit heißen sollte, wenn ihm die namensgebe­nde Stadt abhandenkä­me, hat sich der NeuUlmer SPD-Stadtrat Karl-Martin Wöhner Gedanken gemacht. Er nimmt für sich in Anspruch, die gesamte Kreisfreih­eitsdebatt­e ins Rollen gebracht zu haben, weil er 2016 den Antrag gestellt hatte, die Verwaltung sollte doch mal die Vorund Nachteile abwägen. Bei einer Unterbezir­ksversamml­ung seiner Partei schlug er launig vor, das Rumpf-Gebilde nach den prägenden Gewässern „Donau-Iller-RothKreis“zu taufen, kurz: „Dirk“. Daraufhin beschied ihm seine Parteifreu­ndin und stellvertr­etende Landrätin Sabine Krätschmer unwirsch: „Wir lassen uns von euch nicht auch noch den Namen diktieren.“

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Foto: Alexander Kaya Ein Landkreis ohne seine namensgebe­nde Stadt – ob es wirklich so weit kommt, muss der Landtag entscheide­n, der in der NuxitDebat­te das letzte Wort hat.

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