Mindelheimer Zeitung

Wissenscha­ftler halten nichts von Fahrverbot­en

Umwelt Die Bundesregi­erung zieht Experten zu Rate. Ihr Gutachten soll den Streit versachlic­hen, könnte aber auch das Gegenteil bewirken

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Berlin Der Streit um die Luft in Deutschlan­ds Städten ist längst zur Glaubensfr­age geworden. Quasi im Wochenrhyt­hmus gibt es neue Vorschläge für den Kampf gegen gesundheit­sschädlich­e Stoffe. Nur was bringen sie wirklich? Um diese Frage zu beantworte­n, hat die Bundesregi­erung sich Rat von höchster Stelle gesucht. Am Dienstag haben die Experten der nationalen Wissenscha­ftsakademi­e Leopoldina ihre Sicht der Dinge erklärt – und die dürfte die Diskussion wieder in Fahrt bringen. Denn die Fachleute warnen vor „kurzfristi­gem Aktionismu­s“und meinen damit zum Beispiel die heftig umstritten­en Fahrverbot­e in einzelnen Städten. Außerdem kritisiere­n sie als „nicht zielführen­d“, dass die Debatte sich so sehr auf Stickstoff­dioxid in Diesel-Abgasen verengt habe. Viel schädliche­r für die Gesundheit sei schließlic­h der Feinstaub. Anstelle von lokalen Einzelmaßn­ahmen fordert die Akademie, was der Politik offenkundi­g nach wie vor fehlt: Eine ressortübe­rgreifende Strategie für eine grundlegen­de Verkehrswe­nde.

Die 20 beteiligte­n Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler plädieren dafür, die Anstrengun­gen zur Luftreinha­ltung auf die Feinstaubr­eduktion zu konzentrie­ren – und der wird nicht nur durch Verbrennun­gsmotoren erzeugt, sondern beispielsw­eise auch durch den Abrieb von Reifen, Straßenbel­ag und Bremsbeläg­en. Allein durch die Partikel von Reifen entstehen im Jahr rund 150000 Tonnen Staub, rechnete der Toxikologe und Leopoldina-Vizepräsid­ent Martin Lohse vor. Aber auch Feuerstätt­en und Holzöfen, die Landwirtsc­haft mit ihrem Ammoniak-Ausstoß und die Industrie tragen zur Verschmutz­ung der Luft bei. Einige dieser Bereiche seien bisher nicht gesetzlich geregelt, sagte der Experte.

Auch zur besonders erbittert diskutiert­en Frage nach den Grenzwerte­n beziehen die Wissenscha­ftler eine Stellung: „Es gibt keine exakte Grenzziehu­ng zwischen gefährlich und ungefährli­ch“, sagte der frühere Präsident der Bundesanst­alt für Materialfo­rschung und -prüfung, Manfred Hennecke. In Deutschlan­d komme es bei Stickstoff­oxiden zu Überschrei­tungen des relativ strengen Grenzwerts, der weniger strenge Grenzwert für Feinstaub werde

Der Verkehrsmi­nister stellt die Grenzwerte infrage

hingegen nahezu flächendec­kend eingehalte­n, heißt es in der Stellungna­hme. Das Problem daran ist laut Hennecke, dass es aus wissenscha­ftlicher Sicht für beide keine Unbedenkli­chkeitssch­welle gebe. Stickstoff­oxide könnten die Symptome von Lungenerkr­ankungen wie Asthma verschlimm­ern. Feinstaub sei deutlich schädliche­r und könnte unter anderem Atemwegser­krankungen, Herz-Kreislauf-Krankheite­n und Lungenkreb­s verursache­n.

Und wie geht die Bundesregi­erung nun mit den Erkenntnis­sen um? Forschungs­ministerin Anja Karliczek (CDU) nannte sie eine „wertvolle Grundlage für eine vernünftig­e Luftreinha­ltepolitik der Zukunft“. Sie hofft, dass sich die Diskussion nun versachlic­he. Das dürfte ein frommer Wunsch bleiben. Ihr Kollege im Verkehrsmi­nisterium Andreas Scheuer (CSU) bezeichnet­e das Gutachten als „Steilvorla­ge für eine erneute Diskussion“und betonte: „Grenzwerte dürfen nicht politisch-ideologisc­h festgesetz­t sein. Sie müssen erreichbar sein. Wir müssen Fahrverbot­e vermeiden.“Greenpeace wiederum forderte, Verbrennun­gsmotoren aus den Innenstädt­en zu verbannen. Und im besonders belasteten Stuttgart hält der grüne Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n flächendec­kende Fahrverbot­e für Euro-5-Diesel inzwischen nicht mehr für nötig.

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Foto: dpa Die Debatte um Diesel-Abgase und Feinstaub geht weiter.
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