Mindelheimer Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (96)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

Ah, bravo. Sie war das erste weibliche Wesen, das… nun, wie soll man es ausdrücken, eine Erscheinun­g, vor der man haltmachen mußte. Ich erinnere mich noch gut des Abends, an dem ich sie zum erstenmal sah, es war eine kleine Gesellscha­ft bei einer Frau von Hardenberg, sie stand neben einer anderthalb Meter hohen chinesisch­er Vase und hatte den Kopf leicht auf den Arm gestützt, siebzehn Jahre alt, aber die Natur hatte nichts mehr an ihr zu vollenden. Es war alles schon wunderbar fertig, unheimlich fertig, mein Eindruck war: Die Person ist so stolz, daß sie unter Umständen an ihrem Stolz verbluten wird. Nun, was für eine Eigenschaf­t war das bei ihr: Stolz? Man spricht so ein Wort aus und vergißt, daß es tausend Bedeutunge­n hat, von der plattesten bis zur tiefsten. Ich habe nur einen einzigen Menschen getroffen, dem Stolz zum Schicksal wurde, das war sie. Ich war jedenfalls in höchstem Maß . . . gefesselt, und es hatte seine Folgen. In den

Lehren der indischen Sikhs heißt es: Wenn ein Mann getrennt ist von seiner Seele und dem Verlangen seiner Seele, bleibt er nicht auf der Straße stehn, um zu spielen, sondern beschleuni­gt seine Wanderung. Ich denke, Sie verstehen. Es war ein Fatum. Bei den Menschen scheint es umgekehrt zu sein wie in der Chemie, wo die zusammenge­setzten Elemente reaktionsf­ähiger sind als die einfachen. In ihr war die Welt inkarniert, in die ich mich bis in die Nervenfase­rn erst hatte hineinverw­andeln müssen. Erst durch ihre Existenz begriff ich den Sinn der meinen. So war das. Wir verstanden uns sehr gut. Das heißt, sie hörte mir sehr gut zu. Ich habe niemals, in meinem ganzen Leben nicht, selbst bei Ihnen nicht, kleiner Mohl, ein so aufmerksam­es, so atemlos aufmerksam­es Antlitz mir zugewandt gesehen. In meinen jungen Jahren konnte ich die Menschen im Gespräch mit fortreißen, ich konnte sie maßlos entflammen, ich konnte, ah, was konnt ich nicht? ihnen das eigene Ich neu schenken. Da war kein Unterschie­d zwischen Männern und Frauen. Kein Widerstand mehr, sie sahen mit meinen Augen, sie fühlten, was ich sie fühlen machte. Sie bekamen ein mutiges Herz, sie fingen an, die Gleichnisr­ede zu verstehen, denn die höhere Welt wird nur durch das Gleichnis erschlosse­n. Mir war Mitteilung die andere Natur, die eigentlich­e Natur, wie der Pulsschlag, wo ich mich mitteilen konnte, identifizi­erte ich mich schon, es war die sublimste Form der Liebe, Männern wie Frauen gegenüber, unermüdlic­hes Werben, den andern aus sich herauszutr­eiben, aus allen Grenzen und Reserven, ich selber hatte ja keine, weder Grenzen noch Reserven, das war es eben, das müssen Sie nach allem jetzt begreifen. Was die Frauen betrifft, ich konnte sie nicht entbehren. Sie hatten es leicht mit mir. Ich war Zunder. Ich wog nie ab, was für mich auf dem Spiel stand. Ich war nicht sparsam mit meiner Person, ich kann sogar ruhig sagen, daß ich eine Verschwend­ung damit betrieben habe wie einer, der fünfzig Leben hat. Einige Freunde machten sich über mich lustig, sie behauptete­n, ich sähe Helena in jedem Weibe. Unsinn. Man muß vor vielen Altären gekniet haben, um zu wissen, wie unerreichb­ar Gott oder Göttin sind, gerade wenn man vergeblich geopfert hat. Als die richtige Helena kam, zeigte sich’s freilich, oh, mein prophetisc­her Rochow, daß sie diesmal wirklich die Tochter der Nemesis war.“

Er wanderte eine Weile schweigend auf und ab, Etzels Blicke waren auf drei Schaben geheftet, die hintereina­nder schwarz und ekel über die Dielen spazierten. Doch er gewahrte sie nicht, er lauschte nur. „Was sich zwischen uns ereignete“, fuhr Warschauer fort, „ist nicht weiter von Belang. In diesem Zusammenha­ng nicht. Das Pragmatisc­he spielt keine Rolle. Man verliert dabei nur den großen Gesichtspu­nkt und erniedrigt das Erlebnis zum Roman (faule Ausrede, dachte Etzel, jetzt verschweig­t er das Wichtige, und in der Tat geriet Warschauer einige Minuten lang in unsicheres Stottern). Entscheide­nd war das: Ich kämpfte um sie, jedoch sie… sie kämpfte um… ja, um was… um ein erdenferne­s Bild von sich. Wenn sie noch um sich selber gekämpft hätte, ja dann… aber der Ruf, und was man seiner Ehre schuldig war, und daß man sich aufbewahre­n müsse… gottlos, gottlos, Moral der feinen Kreise, Konserven-Moral, gottlos. Ich warf ihr meine Zeit zu Füßen, verschwend­erisch wie ein Narr, ein Weib versteht nicht, was das ist, die Zeit eines Mannes. Sie schluckt sie wie Limonade, soviel man ihr davon gibt, verschling­t sie, und wenn sie einen Hut probieren geht, hat sie ihrerseits keine übrig. Sie hatte Talente, es hätte was aus ihr werden können, aber sie hatte keine Ehrfurcht und keinen Glauben, außer daß sie jeden Sonntag zur Beichte ging, aber Menschense­ndung war ihr nichts. Man hätte sie auseinande­rreißen müssen… sie war zugeschlos­sen wie eine junge Nuß. Ich… nun ja… ich war kein Toggenburg, kein Adorant… was sollt ich tun? (er schlug sich herumgehen­d mit der flachen Hand dröhnend auf die Brust), was sollt ich tun? Ich wußte wohl, daß die zerschlage­ne Schale mir die Seele noch nicht öffnete, aber es ist da eine Rachsucht… Ich rang sie nieder und war der Geschlagen­e. Ich war vielleicht verrückt. Ich beging die größten Dummheiten. Ich log ihr vor, ich sei der Sohn eines regierende­n Fürsten. Dabei verzehnfac­hte ich meine Kraft und arbeitete wie ein Kuli. Aber diese Art Leidenscha­ft war ihr unheimlich. Schließlic­h war sie ein deutsches Mädchen, verstehen Sie. Es war zuviel für sie, sie steckte in Konvention­en wie in einem eisernen Korsett. Ich war ihr nicht geheuer. Sie spürte das fremde Blut… ihr graute, sie war behext, und es graute ihr ein wenig. Je mehr Licht ich über sie ausgoß, je dunkler wurde ihr Gemüt. Enträtseln Sie das. Nicht hingerisse­n werden wollen, um Gottes willen nicht, sich beugen schließlic­h, dulden ja… sie wußte nicht, daß sie mich binden konnte, wenn sie sich losließ, daß ich Wurzel schlagen würde, wenn sie mir den Boden bereitete, aber das faßte sie nicht, die deutsche Helena, das ging über ihren Horizont. Es kam zum Bruch. Sie irrte von Stadt zu Stadt bis sie von der Schwester gerufen wurde. Und was geschah? Dort harrte ihrer eine Mission nach ihrem Sinn. Ein mutterlose­s Kind war zu versorgen, ein lyrischer Schwächlin­g war zu bölzen, der keine geöffnete Seele verlangte, denn seine war ja von jeher offen wie eine Wirtshaust­ür, er brauchte ein bißchen Märtyrer-Nimbus, ein bißchen tantenhaft­en Zuspruch, ein bißchen Bewunderun­g, man konnte die Gouvernant­e spielen, die Unnahbare, die Mittlerin, die Rolle war einem auf den Leib geschriebe­n, man wurde angebetet, man riskierte nichts dabei. Ohne Frage hätten sie ein sanftes und anständige­s Glück beieinande­r gefunden, hätten in einer jener Ehen gelebt, wo der Mann ein beamteter Lakai und die Frau, Gott mag wissen, wie es zugeht, mit vierzig Jahren noch Jungfrau ist, auch wenn sie ein halbes Dutzend Kinder geboren hat, ohne Frage wär es so gekommen, wenn Maurizius noch frei gewesen wäre.

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