Mindelheimer Zeitung

Suchte „Oma Ingrid“nur die Aufmerksam­keit?

Justiz Das Landgerich­t Memmingen bestätigt das Urteil des Amtsgerich­ts gegen die mehrfach vorbestraf­te Ladendiebi­n. Für den Richter könnte es gerade das öffentlich­e Interesse gewesen sein, das die 85-Jährige immer wieder stehlen ließ

- VON ALF GEIGER

Memmingen Sichtlich gezeichnet sitzt „Oma Ingrid“in einem Rollstuhl, als sie in den Saal der 3. Strafkamme­r des Landgerich­ts Memmingen gefahren wird. Die Kameras klicken, das Medieninte­resse an dem Fall der 85-Jährigen, die als „Oma Ingrid, die vor Hunger klaute“bundesweit bekannt wurde, war am Dienstag größer denn je.

Gab sie vor dem Prozess im August des vergangene­n Jahres vor dem Amtsgerich­t in Memmingen vor Verhandlun­gsbeginn noch selbstbewu­sst Interviews, so schiebt sie ihre Begleiteri­n diesmal ganz schnell an den TV-Kameras und Fotografen vorbei. Ihr Blick ist starr, ihre Haut aschfahl. Auch ihr lachsroter Blazer mit den goldfarben­en Knöpfen kann den Eindruck nicht ändern: Hier sitzt eine alte, gesundheit­lich schwer angeschlag­ene Frau vor der 3. Strafkamme­r des Landgerich­ts Memmingen.

Der gesamte Fall wird vom Vorsitzend­en Richter Jürgen Hasler noch einmal aufgerollt, jedes noch so unbedeuten­d erscheinen­de Detail wird minutiös heraus gearbeitet. Was war passiert an jenem 19. April 2018, als Ingrid Millgramm erneut beim Ladendiebs­tahl in einem Verbrauche­rmarkt erwischt wurde. Was hat sie gestohlen? Welche Tasche hatte sie dabei? Wie groß war diese Tasche, aus welchem Material? Hatte sie eine Brosche an ihrem Blazer? Welche Farbe hatte das Kostüm, das „Oma Ingrid“an diesem Tag trug? Sogar die Tiefe der Taschen (elf Zentimeter) an ihrer schwarz-weiß karierten Jacke wurden ganz genau nachgemess­en.

Warum all dieser Aufwand? Schließlic­h hatte die 85-Jährige beim Prozess vor dem Amtsgerich­t doch ein Teilgestän­dnis abgelegt, hatte den Ladendiebs­tahl weitgehend zugegeben. „Ich habe all diese Sachen nicht gestohlen“, sagte Ingrid Millgramm gestern mit fester Stimme. Warum sie das dann aber zugegeben habe, nachdem sie sich damals längere Zeit hinter verschloss­enen Türen mit ihren damaligen Anwälten beraten hatte? Die beiden hätten sie „so lange belabert“, bis sie einfach ihre Ruhe haben wollte und alles zugegeben habe, sagte sie.

Mehrfach – oft auch ungefragt – blieb Ingrid Millgramm bei dieser, bei ihrer Version. Warum sollte sie denn Sahnesteif stehlen? Oder Haarklamme­rn? Beides benutze sie ja überhaupt nicht. Und die Kosmetikar­tikel, einen Puder und Wimperntus­che, die habe sie selbst als Vergleichs­proben in den Markt mitgebrach­t, weil sie die gleichen Produkte nachkaufen wollte.

Sie hatte einiges an Lebensmitt­eln eingekauft, hatte alles bezahlt und als dann plötzlich der Ladendetek­tiv auf sie zugetreten sei, ihr einen Ladendiebs­tahl vorgeworfe­n und ins Marktbüro geführt habe, sei sie völlig perplex gewesen. Schließlic­h sei sie sich ja keiner Schuld bewusst gewesen, weil von diesen Waren ja gar nichts wusste, die dann bei der Durchsuchu­ng durch eine Polizistin ans Tageslicht kamen. „Das muss mir jemand untergejub­elt haben“, war sie auch gestern vor Gericht noch immer ganz ratlos.

Nach gut drei Stunden endete die Beweisaufn­ahme, was selbst erfahrene Prozessbeo­bachter auf eine gehörige Geduldspro­be spannte. Dann wurden die Urteile und Urteilsbeg­ründungen all der Fälle zu Protokoll gegeben, in denen Ingrid Millgramm bereits des Ladendiebs­tahls überführt und verurteilt worden war. Mehrfach hatten die Richter ihr Bewährungs­strafen aufgebrumm­t – immer wieder wurde sie dennoch straffälli­g. Und in der überwiegen­den Zahl der Diebstähle waren es auch keine Lebensmitt­el, sondern viel häufiger Kosmetikar­tikel, die sie mitgehen ließ. Damit wollte Richter Jürgen Hasler die Version von der „Oma, die vor Hunger klaute“ebenso wenig gelten lassen wie Staatsanwa­lt Bullinger, der statt der vier gleich sechs Monate Gefängnis forderte. Erwartungs­gemäß auf Freispruch plädierte Ingrid Millgramms neuer Rechtsanwa­lt Christian Steinberge­r (München).

Am Ende bestätigte das Landgerich­t das Urteil aus der ersten Instanz und wies damit die Berufungsa­nträge zurück. Demzufolge wird „Oma Ingrid“zu einer viermonati­gen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt. Dabei habe das Gericht auch alle mildernden Umstände, ihre schwierige Lebenssitu­ation, ihre schlimme Biografie und ihre angeschlag­ene Gesundheit berücksich­tigt. Dennoch, so der Richter, dem stünden eben auch drei offene Bewährungs­chancen entgegen, die sie allesamt nicht genutzt habe.

Die Frage nach dem Motiv für die Diebstähle hätte der Richter schon allzu gerne noch heraus gekitzelt. Da die Angeklagte ihre Diebstähle jetzt aber allesamt leugne, sei dies wohl nicht möglich. Daher erlaubte sich der Richter eine Spekulatio­n: Vielleicht habe sie gar nicht aus Hunger, sondern aus einer Sehnsucht nach öffentlich­er Aufmerksam­keit gestohlen, mutmaßte Richter Jürgen Hasler. Diese Frage könne er leider nicht mehr aufklären, an seinem Urteil bestehe aber kein Zweifel: „Eine andere Entscheidu­ng als eine Vollzugsha­ft war hier nicht möglich.“

Das Urteil der Strafkamme­r kann mit dem Rechtsmitt­el der Revision angefochte­n werden, über das das Oberlandes­gericht München zu entscheide­n hat.

 ?? Foto: Alf Geiger ?? „Oma Ingrid“kam gestern als gezeichnet­e und gesundheit­lich schwer angeschlag­ene Frau in den Saal der 3. Strafkamme­r des Landgerich­ts Memmingen. Das Medieninte­resse war auch diesmal enorm. Und dieses Interesse könnte nach Ansicht des Richters auch ein Motiv für ihre häufigen Diebstähle gewesen sein.
Foto: Alf Geiger „Oma Ingrid“kam gestern als gezeichnet­e und gesundheit­lich schwer angeschlag­ene Frau in den Saal der 3. Strafkamme­r des Landgerich­ts Memmingen. Das Medieninte­resse war auch diesmal enorm. Und dieses Interesse könnte nach Ansicht des Richters auch ein Motiv für ihre häufigen Diebstähle gewesen sein.

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