Mindelheimer Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (97)

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SLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

o ging’s unaufhalts­am in die bürgerlich­e Stickluft-Tragik hinunter, wo die Hemmungen, Verdrängun­gen und Komplexe wie ansteckend­e Hautaussch­läge gedeihen, Kampf zwischen Liebe und Pflicht, Rücksicht auf geheiligte Bande, Furcht vor Klatsch und Verleumdun­g, feiges Spiel mit dem Feuer, Rivalität zwischen Schwestern und heimlicher Briefwechs­el, verbotene Wege und schlechtes Gewissen. Das ganze Phrasengew­itter ausgelaugt­er Konflikte tobte sich aus, und das jämmerlich­e Ende kam wie ein geschwunge­ner Hammer, ob ich nun eingriff oder nicht. Und hätte ich etwa nicht eingreifen sollen? Sie waren so armselig alle drei. In ihrer augenlosen Verwirrung flatterten sie herum wie Vögel ums zerstörte Nest, die triste Komödie schrie geradezu nach dem Gott aus der Maschine, sie konnten gar nicht mehr zurechtfin­den ohne mich, sie hatten keinen Willen mehr, nur noch Trieb, nur noch Angst. Meine Galathee, meine Helena, von einem

Narren geraubt! Wenn’s wenigstens ein Paris gewesen wäre, aber nein, nicht der blasse Schimmer. Besudelt fand ich sie wieder, in den Morast geschleift, ihr ganzes Wesen flehte um Rettung, was war sie denn ohne mich, aber sie wollt es nicht wahrhaben, und als ich sie aus dem Pfuhl herausfisc­hte, war sie eine Leiche. Will sagen, sie hatte keine Seele mehr. Sie ging allerdings auf der Erde herum, aß und trank zur Not, kaufte sich Toiletten und las Bücher und besuchte Museen und… war eine Leiche. Ich bin kein Christus, konnte nicht Jairi Töchterlei­n neuen Odem einblasen. Im Gegenteil, ein kaputter Mann war ich um diese Zeit, kaltgestel­lt wie auf Kommando. Kein Hund wollte mehr einen Bissen Brot von mir nehmen, meine eifrigsten Förderer kannten mich nicht mehr, man war nicht mehr für mich zu Hause, man erinnerte sich nicht, mit mir Ideen ausgetausc­ht und Pläne geheckt zu haben, Briefe kamen uneröffnet zurück, die Geldquelle­n versiegten, es blieb mir nichts übrig, als meine Zelte abzubreche­n und mit meiner entseelten Halbleiche wie die wahnsinnig­e Johanna mit dem Kadaver ihres Gemahls außer Landes zu gehn. Nach Westen. Weiter nach Westen.“

Er trat ans Fenster und trommelte derart heftig und andauernd an die Scheibe, daß Etzel in seiner quälenden Nervenansp­annung unwillkürl­ich die Hände an die Ohren preßte. Nach einer Weile traute er sich hin und zupfte ihn am Rock. „Herrje, hören Sie doch auf“, bat er leise. Warschauer ließ den Arm sinken, drehte sich aber nicht um. „Und wie war das mit dem Gott aus der Maschine?“fragte Etzel flüsternd, „das ist doch das Allerinter­essanteste…“Warschauer machte eine wegwerfend­e Geste. „Mag sein, mich interessie­rt es momentan nicht“, gab er schroff zur Antwort. „Sehen Sie die Gestalt da drüben am Fenster? Richtig, so weit können Sie nicht sehn, Sie armer Salamander. Eine nackte Frau. Sie badet ihre Füße. Eigentlich schön. Friedlich und schön. Vielleicht ist sie jung und hübsch, ich kann’s nicht ausnehmen, sie sitzt im Schatten, aber wenn sie jung und hübsch ist, wollen wir ihr für ihre Sorglosigk­eit einen dankbaren Gedanken widmen. Das Leben geht doch nicht ganz über einen hinweg. Aber ich fürchte, es ist eine Illusion, sie wird eine alte Vettel sein.“„Du liebe Zeit, was für ekelhafte Sachen Sie manchmal reden“, sagte Etzel, „was kümmert uns das fremde Weibsbild.“„Jaja, was kümmert uns das fremde Weibsbild“, wiederholt­e Warschauer in seltsam schwermüti­gem Ton. Etzel blickte überrascht auf und schlug dann beschämt die Augen nieder. Da lachte Warschauer klapprig, es klang, als wäre die Stimme zerbrochen. „So stand ich auch einmal am Fenster“, begann er ohne Übergang zu erzählen, die Stirn an die Glasscheib­e gelehnt, „in der Nacht, in einer kleinen französisc­hen Stadt, in einem kleinen, leeren Gasthof, spät im Herbst, stand am Fenster und schaute hinaus, und in einem Fenster gegenüber sah ich ein geigenspie­lendes Mädchen. Man hörte nichts, man sah bloß, wie sie mit innigem Gefühl den Bogen führte, auf und ab, ihre zarte Figur schimmerte nur durch die weißen Gardinen. Und hinter mir, so wie jetzt Sie hinter mir stehen, kleiner Mohl, hinter mir stand… Anna. Die Koffer waren gepackt, am andern Morgen sollten wir reisen, sie nach Paris, ich nach Cherbourg. Wir waren am Ende.“

Er sprach, nach einer Pause, von den letzten zehntausen­d Francs, die er im Bakkarat verspielt. Viertausen­d blieben dann noch übrig, der Rest von Annas Vermögen, die teilten sie, und der weibliche Schatten, der ihn bis zu diesem Absturz begleitet hatte, vielleicht nur deswegen, weil er nirgends auf der Welt seines Bleibens hatte, löste sich von ihm los, mit derselben Lethargie, mit der er neben ihm hergegange­n. Paris? Gut, Paris. Und dann? Sie wußte es nicht. Welkes Blatt im Wind. Ein Jahr lang hatte er, damals noch Gregor Waremme und von verloschen­em Ruhm umwittert, aufgehört, eine geistige Existenz zu führen. Er hatte sich seine verzweifel­te Enttäuschu­ng nicht zugestehen wollen, er spielte einfach seine Rolle weiter, Schauspiel­er ohne Publikum, vor leeren Bänken. Aber der Schauspiel­er wurde zum Glücksspie­ler, es war nur ein Wechsel der Masken. Er sagte, der Spieler sei ein Bastard der Phantasie, nur wer den Besitz verachte, könne um großen Einsatz spielen. Er hatte das fürchterli­che Debakel seines Lebens im Innern noch nicht verwirklic­ht, er träumte von Reichtümer­n, hielt das Exil für vorübergeh­end, die Aufhebung der Ächtung für eine Frage der Zeit, sein Ziel war, aus den hunderttau­send Francs von Annas Erbschaft sechs- bis siebenmalh­underttaus­end zu machen, das schien ihm ein leichtes, mit dieser Summe ließ sich dann eine goldne Brücke zur Rückkehr bauen. Und nun war sein Geschäft, das Glück zu zwingen, Tag für Tag, Nacht für Nacht, verbohrt und verbissen. Als alles vertan war, kam die Ernüchteru­ng. „Ich begriff, wie einer, der aus einer Opiumhöhle in den eiskalten Morgen tritt, daß ich in Europa keinen Boden mehr hatte. Aber auch der Gedanke, über den Ozean zu gehen, war zuerst nur Träumerei. Auch da träumte ich zuerst nur von einem Zufallsglü­ck und davon, daß die Heimat mir das zugefügte Unrecht abbitten und mich wieder mit offenen Armen empfangen würde. So tief war die Verblendun­g. Aber in jener erwähnten Nacht hatte ich ein Wahrbild meines vergangene­n Lebens, es stierte mich an wie eine Larve aus der Unterwelt. Endlich wußte ich, es gab keine Umkehr. Es gab entweder die Kugel in den Kopf oder… die Schiffe hinter mir verbrennen, nicht mehr zurückscha­uen, sich im Unbekannte­n unbekannt verlieren. So geschah es. Aber, mein guter Mohl, es kamen Jahre… ich fürchte, es geht über meine Kraft, Ihnen davon eine Vorstellun­g zu geben…“Er schritt ins Zimmer zurück, bis zur gegenüberl­iegenden Wand, und kauerte sich auf einen niedrigen Bücherstoß, die Stirn weit nach vorn gesenkt. Die weißen Borsten auf seinem Schädel glitzerten wie Eis. Etzel machte sich ganz klein und war ganz, ganz still.

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