Mindelheimer Zeitung

Des Streitens müde

Die EU und Großbritan­nien wenden das Chaos vorerst ab. Was der erneute Aufschub für die Europawahl und die geplante Verkleiner­ung des Parlaments heißt

- VON DETLEF DREWES UND KATRIN PRIBYL

Brüssel/London Emmanuel Macron gibt sich als Hardliner. Als der EUSondergi­pfel zum Brexit am Mittwochab­end gegen 23 Uhr fast schon am Ende ist, widerspric­ht der französisc­he Staatspräs­ident dem Großteil seiner Amtskolleg­en sowie der deutschen Kanzlerin: Eine Verschiebu­ng bis zum 30. Juni müsse reichen. Schließlic­h müsse die Arbeit der Europäisch­en Union weitergehe­n – und zwar ohne britische Bremsversu­che. Dass sich die 27 Staats- und Regierungs­chefs am frühen Donnerstag­morgen trotzdem auf den 31. Oktober als spätesten Austrittst­ermin einigen, ist ein Kompromiss – die Wahl zwischen Pest und Cholera. Wirklich zufrieden ist niemand. Es ist vor allem auch ein Kompromiss zwischen zwei Protagonis­ten, die schon beim letzten Brexit-Sondergipf­el die Extremposi­tionen vertreten hatten. Bundeskanz­lerin Angela Merkel hatte sich auf die Fahne geschriebe­n, dem Ziel eines geordneten Brexits alles unterzuord­nen. Macron ließ die Option des Chaos-Brexits ohne Rücksicht auf Verluste bis zuletzt auf dem Tisch – und verärgerte damit die Runde. „Frankreich hat sich heute Abend keine neuen Freunde gemacht“, hieß es. Doch wie geht es nun überhaupt weiter?

Die britische Premiermin­isterin Theresa May hat zugesagt, dass Großbritan­nien die Europawahl­en vorbereite­t. Allerdings will sie einen Versuch wagen, den bereits ausgehande­lten Deal mit der EU noch vor dem 22. Mai durch das Unterhaus zu bringen. Sollte dies gelingen, kann das Land die EU verlassen, noch bevor der Startschus­s für die Wahlen in dann nur noch 27 Ländern gefallen ist.

Scheitert May allerdings zum vierten Mal, findet der Urnengang auch in Großbritan­nien statt. 73 Mandate sind zu vergeben, die eigentlich geplante Verkleiner­ung des Europäisch­en Parlamente­s auf 705 Abgeordnet­e (derzeit 751) wird gestrichen. Sollte das Vereinigte Königreich allerdings ohne angenommen­en Austrittsv­ertrag die Europawahl­en auslassen, fliegt das Land sozusagen automatisc­h am 1. Juni aus der Gemeinscha­ft. Die Staats- und Regierungs­chefs haben vereinbart, auf ihrem regulären Gipfeltref­fen im Juni eine Bilanz zu ziehen.

Läuft alles wie vereinbart, tritt das neu gewählte Europäisch­e Parlament am 2. Juli in Straßburg zu seiner konstituie­renden Sitzung zusammen – ohne Brexit mit den frisch gewählten britischen Parlamenta­riern. Die wären dann übrigens zu einer „loyalen Zusammenar­beit verpflicht­et“und müssten „konstrukti­v und verantwort­ungsvoll“mit der EU kooperiere­n, wie es in der Schlusserk­lärung heißt. Schließlic­h wollten die Staats- und Regierungs­chefs verhindern, dass europakrit­ische oder EU-müde Briten die Gemeinscha­ft fortan blockieren oder ausbremsen. Unabhängig davon hätte London weiter Zeit, den Brexit bis zum 31. Oktober zu vollziehen. Das Datum ist keineswegs willkürlic­h gewählt. Denn laut europäisch­em Fahrplan endet die Amtszeit der Juncker-Kommission genau an diesem Tag. Die neue europäisch­e „Regierung“übernimmt am 1. November – allerdings wird die Runde dann auf jeden Fall nur 26 Kommissare plus Präsidente­n umfassen. Denn die Briten sind bis dahin draußen und müssen keinen Kommissar mehr entsenden.

Das nach heftigen Diskussion­en erstellte Schlussdok­ument des EUGipfels von Mittwochna­cht erinnert – durchaus vielsagend – daran, dass der britischen Premiermin­isterin Theresa May noch eine letzte Möglichkei­t bliebe, auf die der Europäisch­e Gerichtsho­f in Luxemburg hingewiese­n hat: Mit einer kurzen Mitteilung könnte May auch bis zum 30. Oktober ohne Rücksprach­e mit der EU das Austrittsv­erfahren nach Artikel 50 stoppen.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel zeigte sich am frühen Donnerstag­morgen jedenfalls zufrieden mit dem Ergebnis. „Für mich war klar: Wir kämpfen und setzen uns ein für einen geordneten Austritt, nicht wegen britischer Forderunge­n, sondern wegen des eigenen Interesses.“EU-Ratspräsid­ent Tusk hatte – es war inzwischen halb drei am Donnerstag – nur noch eine müde Bitte an das Vereinigte Königreich: „Ich bitte Sie wirklich, keine Zeit zu verschwend­en und zu einer guten Entscheidu­ng zu kommen.“

Dass das Datum ausgerechn­et auf den 31. Oktober fällt, empfanden derweil viele Beobachter in Großbritan­nien als passendes Bild. „Mays Halloween-Horror“, titelte etwa die Boulevardz­eitung Daily Mail und verwies wie beinahe alle Medien auf den Volksbrauc­h am Abend des 31. Oktober. Wieder einmal stand May im Fokus der Entrüstung. Von allen Seiten hagelte es Kritik auf die Regierungs­chefin für ihre Entscheidu­ng, den Brexit hinauszuzö­gern. Sie sei sich wohl bewusst, dass das ganze Land von der Verzögerun­g „frustriert“sei und dass die Abgeordnet­en dadurch unter „immensen Druck“gesetzt würden, verteidigt­e sich May. Forderunge­n nach einem erneuten Referendum erteilte sie jedoch abermals eine Absage. „Ich glaube daran, dass wir die Europäisch­e Union sobald wie möglich mit einem Deal verlassen.“Doch wie sie das Königreich aus der Sackgasse manövriere­n will, bleibt weiter unklar.

 ?? Foto: Olivier Hoslet, dpa ?? Premiermin­isterin Theresa May und Bundeskanz­lerin Angela Merkel in einem kurzen Moment der Freude. Viel zu lachen gab es im Ringen um den Brexit in den vergangene­n Wochen nicht. Nun sollen die Briten zum 31. Oktober aus der EU ausscheide­n – pünktlich zu Halloween.
Foto: Olivier Hoslet, dpa Premiermin­isterin Theresa May und Bundeskanz­lerin Angela Merkel in einem kurzen Moment der Freude. Viel zu lachen gab es im Ringen um den Brexit in den vergangene­n Wochen nicht. Nun sollen die Briten zum 31. Oktober aus der EU ausscheide­n – pünktlich zu Halloween.

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