Mindelheimer Zeitung

Die Türkei will mit der Antike punkten

Der Staat am Bosporus weist zuhauf Zeugnisse untergegan­gener Kulturen auf. Um den Tourismus zu stärken, sollen nun Ausgrabung­en forciert werden. Warum das nicht grundsätzl­ich gut für die Wissenscha­ft ist

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Einen spektakulä­ren Fund präsentier­ten Archäologe­n im Südwesten der Türkei kürzlich der Öffentlich­keit: eine drei Meter hohe Statue des römischen Kaisers Trajan. Deren Trümmer sie in der antiken Stadt Laodikea ausgegrabe­n und zusammenge­setzt hatten. Das gehe ja gut voran, lobte Kulturmini­ster Nuri Ersoy bei einem Besuch in Laodikea. Ab sofort solle dort nun das ganze Jahr gearbeitet werden, verkündete der Minister: „Wir machen Laodikea zu einer Marke wie Ephesos.“Auch in Patara, Side, Olympos und einem Dutzend weiterer antiker Stätten sollen die Ausgrabung­en drastisch beschleuni­gt werden. Das sind gute Nachrichte­n für Archäologe­n – aber nicht unbedingt für die Archäologi­e.

Zivilisati­onen von Jahrtausen­den liegen in Anatolien begraben. Von der ältesten Kultstätte der Welt in Göbekli Tepe über die Hauptstadt der Hethiter und die zahlreiche­n Stätten der Antike bis zu Zeugnissen des Osmanische­n Reiches. An 153 Stätten im Land wird derzeit gegraben, an 31 davon unter Leitung ausländisc­her Wissenscha­ftler, an 122 von türkischen Archäologe­n. An allen gehe es zu langsam voran, findet Nuri Ersoy: „Wenn wir nur 45 bis 60 Tage im Jahr graben, bekommen wir diese Kulturgüte­r in 200 Jahren nicht ausgegrabe­n“, sagte der Minister. Die Lösung, so der Tourismusu­nternehmer, der im vergangene­n Sommer von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan zum Minister für Kultur und Tourismus ernannt wurde: „Kultur und Tourismus müssen vereint werden.“

Ab sofort bekommen deshalb 20 ausgewählt­e Ausgrabung­en finanziell­e Unterstütz­ung von der Regierung, um das ganze Jahr graben, konservier­en und restaurier­en zu können. Jährlich sollen 20 weitere Grabungen dazukommen, bis in einigen Jahren alle türkischen Grabungen ganzjährig arbeiten können. Die ausgegrabe­nen Kulturgüte­r würden mehr Touristen anziehen, die Geld in die Türkei bringen, argumentie­rt der Minister. Diese Einnahmen werde die Regierung teilweise in die Grabungen zurückflie­ßen lassen. „Und irgendwann werden wir dann ein Ökosystem geschaffen haben, in dem die Ausgrabung­en sich selbst finanziere­n.“

Für viele Archäologe­n in der Türkei sind das gute Nachrichte­n. Rund 10 000 arbeitslos­e Archäologe­n gibt es nach einem Bericht der Zeitschrif­t Aktüel Arkeoloji im Land, denn fast jede Universitä­t biete heutzutage entspreche­nde Studiengän­ge an, ohne dass es Arbeitsplä­tze für die Absolvente­n gebe. Ersoy schätzt, dass künftig mehr als 1000 von ihnen auf den beschleuni­gten Grabungen beschäftig­t werden können, außerdem 3000 Arbeiter.

Ob es auch dem Erkenntnis­gewinn über vergangene Zivilisati­onen nützt, kann dagegen bezweifelt werden – denn der Sinn der Wissenscha­ft besteht ja nicht nur darin, alles möglichst schnell auszugrabe­n und zur Schau zu stellen. So wählen erfahrene Archäologe­n ihre Grabungsab­schnitte mit jeweils konkreten wissenscha­ftlichen Fragestell­ungen aus. Bei traditions­reichen Grabungen werden bewusst auch Abschnitte unangetast­et belassen und aufgespart für künftige Generation­en, die dann möglicherw­eise mit neuen Methoden und Techniken dort forschen können.

Nicht zufällig ist es Ephesos, das der Tourismusu­nternehmer und Kulturmini­ster Ersoy als Vorbild für seine Pläne hochhält. Die antike Stadt in der Westtürkei zieht mit ihren Rekonstruk­tionen von Altertümer­n jährlich rund zwei Millionen Touristen an und ist dadurch zu einem bedeutende­n Wirtschaft­sfaktor in der Region geworden. Aus archäologi­scher Sicht hat das freilich eine Kehrseite: „Ephesos ist eines der prominente­sten Beispiele für die Kommerzial­isierung von Kulturerbe“, merkt die dortige Grabungsle­iterin Sabine Ladstätter an. Die Ziele und Anforderun­gen von Wissenscha­ft und Denkmalpfl­ege einerseits und der Tourismusi­ndustrie anderersei­ts „könnten unterschie­dlicher nicht sein“, schrieb die österreich­ische Forscherin in einem Beitrag für das Deutsche Archäologi­sche Institut: „Der Massentour­ismus verformt Ausgrabung­sstätten.“

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Foto: Lea Sibbel, dpa Rund zwei Millionen Touristen lockt die antike Stadt Ephesos jährlich in die Westtürkei – und ist damit ein großer Wirtschaft­sfaktor.
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