Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (102)
ELeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat.
ndlich kam der Anwalt, wir wurden zu dem gefangenen Juden geführt, er hockte in einem Käfig, das ganze Gefängnis bestand wie eine Menagerie aus eisernen Käfigen, da hockte er drin; als er uns erblickte, schluchzte er laut auf. La Due setzte sich zu ihm auf die Pritsche, strich ihm zärtlich über den Kopf, forderte ihn auf, zu erzählen, wie alles zugegangen. Der Mensch war wie ausgewechselt, in kaum verständlichem Jargon schilderte er sein Unglück, es schien wirklich, daß er das Opfer einer Perfidie war, jedenfalls wußte ihn La Due über seine Aussichten zu beruhigen. Das Sonderbare war nur, wie er überhaupt von ihm erfahren hatte. Und von den hundert und hundert andern, für die er ununterbrochen auf den Beinen war. Das blieb mir ein Rätsel. Nach und nach wurde mir ja sein Leben ziemlich vertraut, da er deutschen Sprachunterricht bei mir nahm, ich weiß heute noch nicht, ob er mir damit unter die Arme greifen wollte oder ob er wirklich so lernbegierig war. Er hatte keine Helfer. Er ging immer allein auf seine Jagdzüge in die Slums, von niemand beraten oder gewiesen. Es beruhte offenbar auf einer Art Schneeballsystem. Zum Beispiel, nachdem er dem Juden in der Maxwell Street geholfen hatte, wandten sich gleich sechs jüdische Immigranten an ihn. Juden lagen ihm besonders am Herzen, Juden und Neger. Was er vollbrachte, geschah auf eigene Faust, nach eigenem Augenschein, von Person zu Person. Er hatte keine Wohlfahrtsleute um sich, keine hinter sich. Er schwamm nicht im großen Strom der Philanthropie. Es war ihm vollständig gleichgültig, woher die Dollarmillionen für karitative Anstalten kamen und wofür sie verwendet wurden. Wahrscheinlich war er sich kaum bewußt, daß seine Tätigkeit in eine ganz andere Kategorie von Menschendienst gehörte. Zu urteilen erlaubte er sich nie, dazu war er zu respektvoll und dachte zu gering von sich. Ich sagte ihm einmal, das ganze soziale Fürsorgewerk sei ein Fingerhut voll Milch in einem Hektoliter Tinte. Er sah mich betrübt an. So? meinen Sie? ist das so? fragte er und schüttelte untröstlich den Kopf. Ich bin sicher, daß er die Großunternehmer der Wohltätigkeit nicht schätzte. Es gab aber eine Frau, die Samariterin von Hullhouse, Gründerin der Jugendhilfe, die verehrte er auf Knien, man brauchte bloß ihren Namen zu nennen, so wurden seine Augen feucht. Eines Tages kam er in ungewöhnlich erregtem Zustand zu mir und erzählte, was sich den Abend vorher ereignet hatte. Ein vierzehnjähriger Junge sei mit allen Zeichen der Angst und des Schreckens ins Hullhouse gekommen, habe die Miß zu sprechen begehrt, habe sich, als man ihm bedeutet, die Miß habe sich schon zur Ruhe begeben, auf die Erde hingeworfen und verzweifelt um sich geschlagen. Die Miß soll kommen, die Miß soll kommen. Man holt also die Miß, sie kennt den Jungen, es ist einer ihrer Schutzbefohlenen. Allein mit ihr, stürzt er auf die Knie, beschwört sie, ihn zu retten, zu verbergen, die Polizei sei hinter ihm her, er habe seinen Vater umgebracht. Grund? Seit Monaten hat er Nacht für Nacht mit dem fürchterlichen Stumpfsinn einer Maschine die Mutter aufs grausamste mißhandelt, der Junge hat es nicht länger mitansehen können und ihn mit dem Küchenmesser von hinten erstochen. Was dann sich abspielte, da hätte ich dabei sein mögen, es muß was Unerhörtes gewesen sein. La Due war um Mitternacht ins Hullhouse gekommen, wo er häufig Station machte und gewisse Tips bekam, er hatte den Bericht noch frisch aus dem Mund der Miß gehört, er brachte auch den Jungen, der vollständig gefügig geworden war, nachher zur Polizei. Er schilderte mir den Vorgang mit seiner südlichen Lebhaftigkeit. Die Miß hatte den Jungen angehört und dann begonnen, ihm sanft und entschieden zuzureden, er müsse sich stellen und sich zu seiner Tat bekennen. Er weigerte sich leidenschaftlich. Er habe kein Unrecht getan, er habe ein gemeines Tier aus der Welt geschafft, weiter nichts, es sei besser zu leben in der Welt, wenn das Tier nicht mehr da sei, die Tat verdiene Lohn, nicht Strafe, nicht den Kerker, nein, nein, nein. Seine Augen glühten, der ganze Kerl glühte. Zu leben war sein Recht, das Scheusal beseitigt zu haben, war sein Recht, Vater oder nicht Vater, danach fragt er nicht, wer danach fragt, hat kein Herz im Leib und keinen Verstand im Kopf, der weiß nicht, wie der Hund sein armes Weib gequält und so weiter. Die Miß kannte den Starrsinn des Buben, er war einer ihrer begabtesten Schützlinge, doch maßlos wild und unbändig. Mit Aufgebot all ihrer Seelengewalt überzeugt sie ihn langsam, daß er das Recht nicht habe, fremdes Leben zu vernichten, ich berichte nur, es ist meine Ansicht keineswegs, warum soll man nicht eine solche Pestbeule am Leib der Menschheit ausmerzen, doch was ich denke, ist ja nebensächlich. Sie bringt ihm bei, um seiner selbst willen, seiner Ehre, seines Stolzes willen habe er die Buße auf sich zu nehmen, verborgen könne die Untat nicht bleiben, wie beschämend, wenn er erst aufgespürt, erst überführt werden müsse, statt ein Mann und Held zu sein, stehe er als Feigling und Lügner da, wie solle sie dann je wieder an ihn glauben. Darauf spitzt sie ihre Beredsamkeit zu: Daß sie dann nicht mehr an ihn glauben könne, das macht den tiefsten Eindruck auf ihn. Endlich hat sie ihn erweicht, er fällt ihr um den Hals, der Trotz ist gebrochen. Es hat Stunden und Stunden gedauert, mit Argumenten und Gegenargumenten, mit Beispielen und Geständnissen, mit Zögern und Sichwiederverschließen, mit Bitten und Vorstellungen und Anruf von beiden Seiten. Sie sollen daraus nur entnehmen, was das für ein Menschenschlag ist, wie stark, wie unbeugsam, wie nah zueinander gestellt, wie eng ineinander verwoben. Was später La Due für den Jungen tat, war weniger entscheidend, doch nicht weniger wichtig, die verhältnismäßig milde Strafe, zu der er verurteilt wurde, war seiner unermüdlichen Bemühung zu danken, er hatte bei den Zeitungen Stimmung gemacht und den tüchtigsten Anwalt aus seiner Tasche besoldet. Je genauer ich ihn kennenlernte, je mehr schälte er sich aus der bescheidenen Hülle los. Ich sah einen Menschen, der in all seiner Unscheinbarkeit für ein Ganzes einstand, den Kristall sozusagen, der sich aus dem rohen Material gebildet hatte. Es mochte Ungezählte seinesgleichen geben, und je tiefer ich in die mächtigen Zusammenhänge blickte, je überzeugter war ich, daß er tatsächlich nur einer von Ungezählten war, der eine, den ich zufällig gefunden hatte. Das gerade erschütterte mich in meinem europäischen Hochmut, so wie ein alexandrinischer Grieche vielleicht erschüttert worden wäre, hätte er zufällig einen sanften Nazarener in Gallien getroffen. Doch was, Nazarener… bei La Due war keine Botschaft, kein Evangelium, eine einfache kindliche Freundlichkeit, weiter nichts.