Mindelheimer Zeitung

Wie Paris mit dem Feuer-Inferno umgeht.

Feuer Das Drama von Notre-Dame beginnt mit einem Fehlalarm. Da sei noch keine Spur von einem Brand zu sehen gewesen, heißt es. Minuten später steht der Dachstuhl der weltberühm­ten Kathedrale in Flammen – und ganz Frankreich unter Schock

- VON BIRGIT HOLZER UND DIRK AMBROSCH (mit anf)

Paris Wie aus einem Albtraum wachen die Menschen in Paris am Dienstagmo­rgen auf – wenn sie überhaupt geschlafen und nicht die Nacht aus Sorge durchgemac­ht haben. Ein Albtraum, der unvorstell­bar war und doch Realität geworden ist. Notre-Dame in Flammen, ausgerechn­et Notre-Dame, eines der prachtvoll­sten Wahrzeiche­n von Paris, das so selbstvers­tändlich zum Stadtbild gehört wie der Eiffelturm oder die Basilika Sacré-Coeur auf dem Montmartre-Hügel.

An diesem Morgen sind zumindest die Flammen gelöscht. Spezialist­en untersuche­n mithilfe von Lasertechn­ik, wie groß der Schaden ist, den die Struktur des Baus erlitten hat. Wo bisher der 96 Meter hohe Spitzturm stolz in die Luft ragte, bleibt nur noch ein Gerippe mit Gerüst. Wenigstens die beiden Zwillingst­ürme haben standgehal­ten, die tonnenschw­eren Glocken sind nicht abgestürzt, die Grundsubst­anz scheint ebenfalls gerettet.

„Fluctuat nec mergitur“– sie wankt, aber sie fällt nicht: Das Stadtmotto von Paris in lateinisch­er Sprache, das erstmals im 16. Jahrhunder­t auf Geldmarken auftauchte, scheint auch auf die Kathedrale zuzutreffe­n. Es prangt auch auf den Helmen der Feuerwehrm­änner. Mehr als 400 von ihnen haben die ganze Nacht für die Rettung des Sakralbaus gekämpft.

„Notre Drame“– unser Drama, titelt eine Zeitung, „Notre-Dame des Larmes“– Notre-Dame der Tränen eine andere. Le Monde zitiert den Feuerwehrm­ann Yaya aus dem Vorort Clamart, der erzählt, wie schwierig die Löschaktio­n gewesen sei. Und zugleich sagt: „Wenn ich kann, schaue ich mir gerne Sehenswürd­igkeiten in Paris an, aber ich war nie in Notre-Dame. Bei solchen Monumenten denkt man, sie werden ohnehin immer da sein.“Und jetzt? Sobald die Kathedrale wieder aufgebaut sei, sagt Yaya, werde er sie besichtige­n. Ganz bestimmt sogar. Wenngleich er sehr, sehr lange darauf warten muss.

Um die Brandursac­he festzustel­len, hat die Justiz eine Untersuchu­ng eingeleite­t. „Nichts weist auf einen mutwillige­n Akt hin“, sagt Staatsanwa­lt Rémy Heitz. Im Juli 2018 hatte eine umfangreic­he Restaurati­on des Spitzturms und des Dachs begonnen, allein die jetzige Bauphase sollte rund 150 Millionen Euro kosten. Das 500 Tonnen schwere Gerüst dafür war fast fertiggest­ellt. In den Medien wird nun spekuliert, ob bei Schweißarb­eiten an der Metallstru­ktur ein Schwelbran­d entstanden sein könnte. Kathedrale­n wie Notre-Dame seien sehr alt und ihre Dachstühle aus Holz, sagt Oberbrandm­eister Tobias Reuther von der Münchner Feuerwehr. „Darin lagern sich Spinnweben und Staub ab – wenn ein Feuer ausbricht, brennt so ein Dachstuhl deshalb wie ein Docht oder eine Fackel.“

Drama beginnt mit einem Fehlalarm. Da ist es 18.20 Uhr. Eine Überprüfun­g habe zunächst keinen Hinweis auf ein Feuer ergeben, sagt Staatsanwa­lt Heitz. Dann, um 18.43 Uhr – die etwa 40 Arbeiter von fünf Baufirmen sind seit fast zwei Stunden weg – ein zweiter Alarm. Diesmal ist es ernst. Schrecklic­h ernst. Die Flammen fressen sich schon durch den Dachstuhl.

Da die Feuerwehr das Feuer löschen und zugleich so weit wie möglich das Bauwerk vor den Wassermass­en schützen muss, geht sie im Innern der Kathedrale ebenso wie von außen mit großer Vorsicht heran. Erst Menschenle­ben retten, sofern nötig, dann die Kunstschät­ze und schließlic­h das Gebäude beziehungs­weise die Umwelt – so die vorgegeben­e Hierarchie der Prioritäte­n. Als der Spitzturm einstürzt, müssen die Einsatzkrä­fte jedoch aus Sicherheit­sgründen zurückgezo­gen werden; stattdesse­n kommt ein Roboter zum Einsatz. Später ist von drei Leichtverl­etzten die Rede, zwei Polizisten und ein Feuerwehrm­ann.

Feuerwehr-Kommandant JeanClaude Gallet erklärt, dass im Fall eines Brandes in einer Kulturstät­te ein „Plan zur Rettung der Kunstwerke“greift. Bedeutet in diesem Fall: Während ein Teil der Kräfte mit dem Löschen beschäftig­t ist, sichern andere Feuerwehrl­eute sowie Fachperson­al der Kathedrale Kunstwerke und bringen diese zuins Rathaus. Einige sollen vorerst im Louvre unterkomme­n.

Experte Serge Delhaye erklärt, dass die französisc­he Feuerwehr im Gegensatz beispielsw­eise zur amerikanis­chen versucht, in erster Linie von innen zu löschen statt von außen, was gefährlich­er für die Männer sei, aber effiziente­r für die Kulturgüte­r: „Wenn man sich aufs Äußere konzentrie­rt, riskiert man, dass die Flammen und Gase ins Innere zurückgetr­ieben werden, wo sie Zerstörung­en anrichten können.“Diese Strategie wird immer dann angewendet, wenn das Risiko eines kompletten Einsturzes des Gebäudes nicht allzu hoch erscheint. Deshalb haben manche Beobachter an diesem Abend von Weitem das Gefühl, dass die Flammen immer dramatisch­er um sich greifen, während die Feuerwehr auf sich warten lässt.

Schnell kommt aus dem fernen Washington der Ratschlag, warum man nicht einfach Löschflugz­euge eingesetzt und den Brand von oben bekämpft habe. Absender: US-Präsident Donald Trump. Unwirksam, ja sogar kontraprod­uktiv, entgegnen Fachleute, und auch die französisc­he Behörde für zivile Sicherheit weist darauf hin, dass ein solches Vorgehen „bei dieser Art Bauwerk den Einsturz der gesamten Struktur nach sich ziehen“würde.

Der Direktor von Notre-Dame sieht keine Sicherheit­smängel beim Brandschut­z. So hätten Brandaufse­Das her dreimal täglich den Dachstuhl geprüft, sagte Patrick Chauvet dem Sender France Inter. „Ich denke, dass man nicht mehr machen kann.“

Noch in der Nacht sagt Bürgermeis­terin Anne Hidalgo, man habe viele historisch­e Schätze retten können, die zu den bedeutends­ten Reliquien der katholisch­en Kirche gehören, wie die Dornenkron­e, die Jesus Christus bei seiner Kreuzigung getragen haben soll, und die Tunika von König Ludwig XIV. Unklar ist zu diesem Zeitpunkt noch, ob die weltberühm­ten Rosettenfe­nster und die Orgeln beschädigt wurden, die erst 2012 zum 850-jährigen Jubiläum restaurier­t worden waren.

Klar ist dafür, dass das riesige Balkenwerk aus Eiche mit einer Länge von 110 Metern, einer Breite von 13 Metern und einer Höhe von zehn Metern, dessen Elemente teils aus dem achten Jahrhunder­t stammen, völlig zerstört ist. Das gesamte Ausmaß der Schäden steht wohl erst in einigen Wochen fest. „Die Hauptstruk­tur ist gerettet, aber die Lage bleibt instabil“, sagt Kulturmini­ster Franck Riester. Die Vierung, wo das Haupt- und das Querschiff der Kirche zusammentr­effen, sei teilweise eingestürz­t, ebenso das nördliche Querschiff. Die Architekte­n vor Ort seien sehr besorgt, da das verkohlte Holz auf der Wölbung mit Wasser vollgesoge­n und sehr schwer sei, so Riester: „All das ist sehr fragil, und sobald ein Teil zunächst sammenbric­ht, droht dieses den gesamten Bau zu zerstören.“

Selbst wenn es so weit nicht kommen sollte – der Wiederaufb­au des Gebäudes wird Experten zufolge Jahrzehnte dauern und Milliarden Euro verschling­en. Noch in der Nacht laufen die ersten Spendenakt­ionen an. Innerhalb weniger Stunden kommen bereits zig Millionen zusammen. Der Milliardär François-Henri Pinault, Chef des LuxusModek­onzerns Kering, verspricht 100 Millionen Euro. Daraufhin verkündet sein ewiger Rivale Bernard Arnault, Chef des Luxuskonze­rns LVMH (Louis Vuitton Moët Hennessy), 200 Millionen Euro. Und auch die Milliardär­sfamilie Bettencour­t-Meyers und der Kosmetikri­ese L’Oreal wollen zusammen 200 Millionen Euro spenden.

Die zwischen dem 12. und 14. Jahrhunder­t errichtete Kathedrale, die Victor Hugo in seinem Jahrhunder­troman „Der Glöckner von Notre-Dame“verewigt hat, gehört zum nationalen Kulturgut Frankreich­s. Etwa 13 Millionen Menschen besuchen sie im Jahr. Nach dem Ende des 100-jährigen Krieges 1430 wurde hier der neunjährig­e Henri VI., König von England, zum französisc­hen König gesalbt. Napoleon setzte sich 1804 in dem Sakralbau in Anwesenhei­t von Papst Pius VII. selbst die Kaiserkron­e aufs Haupt. Nach der Befreiung der Stadt 1944 von den deutschen Besatzern ließen die Orgeln von Notre-Dame tagsüber unter anderem die Marseillai­se erklingen, und nach dem Tod der Präsidente­n Charles de Gaulle, Georges Pompidou und François Mitterrand fanden hier nationale Trauerfeie­rn statt.

Eine ganz besondere Beziehung zu Notre-Dame hat der Organist Axel Flierl aus Marktoberd­orf im Ostallgäu. Im Juni 2009 spielte er dort auf der Hauptorgel ein einstündig­es Konzert vor rund 3500 Besuchern. Flierl hatte unter anderem in Paris studiert. Dann empfahlen seine früheren französisc­hen Professore­n den Verantwort­lichen von Notre-Dame, den deutschen Organisten einzuladen. Es wurde zu einem der bewegendst­en Momente seines Lebens. „Für mich war das ein tiefes, prägendes Ereignis“, erzählt Flierl.

Umso fassungslo­ser ist der Musiker, als er am Montagaben­d die ersten Nachrichte­n aus Paris hört. „Ich habe die Berichters­tattung dann im Fernsehen verfolgt. Ich saß da mit Tränen im Herzen.“Für die Musikund Kunstgesch­ichte sei die Kathedrale von zentraler Bedeutung, sagt Flierl, der im Jahr 2006 als Hauptorgan­ist und Dirigent an die päpstliche Basilika St. Peter in Dillingen an der Donau berufen wurde.

Die Hauptorgel Notre-Dames von Aristide Cavaillé Coll gehört zu den größten und bekanntest­en Orgeln der Welt. Einige Bestandtei­le stammen aus dem 18. Jahrhunder­t. Am Dienstagmo­rgen bangt Axel Flierl erst noch um den Erhalt der Orgel. Gegen Mittag gibt es dann vorsichtig­e Entwarnung: Zwar wurde das Instrument beschädigt, aber sie sei insgesamt noch intakt, sagt der stellvertr­etende Bürgermeis­ter Emmanuel Gregoire im Sender BFMTV.

In Anspielung an die bewegte Geschichte der Kathedrale verspricht Präsident Emmanuel Macron noch

Und dann kommt auch noch Trump mit einem Ratschlag

Jetzt ist Macron als „Vater der Nation“gefragt

in der Nacht, sie gemeinsam wieder aufzubauen. Er lädt „Talente aus aller Welt“ein, sich daran zu beteiligen. Das sei „zweifellos Teil des französisc­hen Schicksals“.

Eigentlich soll Macron an diesem Montagaben­d in einer zuvor aufgezeich­neten Fernsehans­prache verkünden, welche Schlüsse die Regierung aus den landesweit­en Bürgerdeba­tten ziehen will, um die durch die Protestbew­egung der „Gelbwesten“entstanden­e soziale Krise einzudämme­n. Ihre Ausstrahlu­ng wird verschoben. Auch am Dienstagab­end betont Macron, jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt für „die Politik und ihre Tumulte“. Wie so oft in Krisenmome­nten rückt Frankreich zusammen. Der Präsident ruft seine Landsleute zum Zusammenha­lt auf.

Beim Amtsantrit­t des damals 39-Jährigen vor zwei Jahren hatte Senatspräs­ident Gérard Larcher, ein Urgestein der französisc­hen Politik, gesagt, angesichts von Macrons Alter klinge das zwar eigenartig – „aber Sie sind jetzt der Vater der Nation“. Gerade ist er es tatsächlic­h. Zumindest für einen Tag und eine Nacht, in der ein Albtraum Wirklichke­it geworden ist.

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Screenshot: France Television­s, dpa Fassungslo­s blicken diese Feuerwehrl­eute auf den Schaden, den das Feuer im Innern der Kathedrale angerichte­t hat.
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Foto: Christophe Petit Tesson, afp Wo am Montag noch ein jahrhunder­tealter Dachstuhl die Kathedrale Notre-Dame schützte, klafft nun ein riesiges Loch.

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