Mindelheimer Zeitung

Sternenkin­der

Eine Fotografin macht das erste und das letzte Bild von Babys

- VON THERESA TRÖNDLE

Reutlingen Als die App auf ihrem Handy blinkt, hängt Beate Armbruster gerade Wäsche auf. Wieder ein Sternenkin­d. Armbruster blickt auf das Display: 21. Schwangers­chaftswoch­e, im Mutterleib verstorben, Mutter hatte eine Infektion und Blutvergif­tung. Sie packt ihre Kamera ein, umarmt ihre Tochter und steigt ins Auto. Die Straße vor ihrem Einfamilie­nhaus in Reutlingen ist leer. Bis zur Klinik im Raum Stuttgart braucht sie eine halbe Stunde. Dort warten Emils Eltern. Emil schreit nicht, er weint nicht, er schläft nicht. Emil ist tot.

Armbruster ist eine von mehr als 600 Hobby- und Profifotog­rafen in Deutschlan­d, die zum Netzwerk „Dein Sternenkin­d“gehören. Als Ehrenamtli­che fotografie­ren sie Kinder, die vor, während oder kurz nach der Geburt gestorben sind – sogenannte Sternenkin­der. 2500 bis 3000 kommen laut Statistisc­hem Bundesamt in Deutschlan­d jährlich zur Welt. Ihre Eltern können sich online oder über das Krankenhau­s bei dem Netzwerk melden. Die Einsätze werden dann über eine App regional koordinier­t. Kai Gebel, Fotograf, Filmemache­r und sechsfache­r Vater aus Hessen, hat die Initiative vor sechs Jahren ins Leben gerufen. Bisher haben die Fotografen rund 4000 Kinder vor ihrer letzten Reise festgehalt­en.

Seit 2016 kümmert sich Beate Armbruster mit Kollegen um den Alarmkreis 27, von Heilbronn bis an den Bodensee, von Offenburg bis Ulm. Mit den Fotos möchte sie Eltern von Sternenkin­dern ein greifbares Andenken schenken. Als sie vor einigen Jahren ihren Mann verlor, merkte sie, wie schnell Erinnerung­en verblassen – der Geruch, das Lächeln, die Falten um die Augen, die Kerbe zwischen Nase und Mund, die Konturen des Gesichts. „Für Bilder von Sternenkin­dern gibt es keine zweite Chance, es ist eine Erinnerung im letzten Augenblick“, sagt sie. Wie viele Einsätze sie bisher hatte, weiß sie nicht genau. Zwischen 50 und 60, schätzt sie.

Aufgeregt ist sie dabei nicht mehr. Trotzdem atmet sie kurz durch, als sie auf den Parkplatz der Klinik fährt. Im ersten Stock führt sie eine Hebamme zur Intensivst­ation. Es ist drückend warm. Monitore blinken. Irgendetwa­s piept. In einem Raum der Station warten die Eltern von Emil (Name geändert). Seine Mutter liegt im Bett, sein Vater hält ihre Hand. Emil liegt noch im Kühlraum.

Die Eltern wirken verlegen. Sie entschuldi­gen sich für die Umstände. Beate Armbruster gibt dem Vater eine Hand, umfasst dann mit beiden Händen die linke der Mutter. „In dem Moment spüre ich die Zweifel der Eltern, eine fremde Person in eine solch intime Situation zu lassen“, sagt sie später. Zögernd beginnen die Eltern, über Emil zu sprechen. Über die Wahl seines Namens, seinen großen Bruder, der sich so auf das Geschwiste­rchen gefreut hat. Und die Fehlgeburt vor vier Jahren.

Am Morgen waren sie in die Klinik gefahren. Emils Mutter fühlte sich benommen, sie hatte Fieber und einen rasenden Puls: Es war eine Blutvergif­tung. Die Ärzte stellten den Tod des Kindes fest und leiteten die Wehen ein. Emil kam zur Welt. Die Hebammen wuschen den Kleinen, wickelten ihn in ein Tuch, legten ihn in ein Weidenkörb­chen.

Dieses Körbchen stellt eine Hebamme nun auf das untere Bettende. Emil liegt auf einer Strickdeck­e. Ein blauer Stoffstern und ein Strauß Osterglock­en bewachen ihn. Seine Adern schimmern durch die wächserne Haut, sie wirft Falten, ist zu groß für den kleinen Körper. Bevor Beate Armbruster das Deckenlich­t einschalte­n kann, hat Emils Mutter ihren Sohn aus dem Körbchen genommen. Sie sieht ihn zum ersten Mal, betrachtet ihn, stupst seine Nase an, zeichnet mit den Fingern über seine Lider, berührt seine Hände. Sie sind kleiner als ihre Fingerkupp­en. Mit einer Hand wiegt sie ihren Sohn. Emils Lippen sind dunkelrot. Als hätte er eben noch Kirschen gegessen. „Mein Schatz“, flüstert sie und küsst ihn.

Babys wie Emil mit weniger als 500 Gramm Gewicht galten noch bis vor sechs Jahren als Klinikmüll. Sie wurden amtlich nicht erfasst, existierte­n juristisch gesehen nicht. Nur Babys, die mehr als 500 Gramm wogen oder nach der 24. Schwangers­chaftswoch­e zur Welt kamen, galten offiziell als Menschen. Das ertrug eine betroffene Familie aus Hessen nicht und kämpfte für eine Gesetzesän­derung. Im Mai 2013 trat die Neuregelun­g in Kraft. Sie ermöglicht Eltern, ihr Kind unabhängig vom Gewicht und von der Dauer der Schwangers­chaft beim Standesamt und im Familienst­ammbuch eintragen zu lassen.

Beate Armbruster schiebt die Ärmel ihres Strickpull­overs hoch, steckt eine blonde Locke hinter den Bügel ihrer Brille. „Mei Godd, alles dran an däm Kindle“, sagt sie in breitem Schwäbisch, als wolle sie über den Dialekt Vertrauen zu den Eltern aufbauen. Denn eigentlich spricht sie Hochdeutsc­h. Sie wechselt das Objektiv und beugt sich zu Emil hinunter. Er hat die Augen geschlosse­n, liegt in den Händen seiner Mutter. Armbruster beginnt mit Detailaufn­ahmen. Zuerst die Hände, dann die Füße. „In dem Moment sehe ich ein Baby, keine Leiche“, sagt sie später.

Die 51-Jährige ist keine gelernte Fotografin. Beate Armbruster wuchs in Freiburg auf, wollte Hebamme werden, bekam aber keinen Ausbildung­splatz und entschied sich für eine Lehre in der Jugend- und Heimerzieh­ung. 15 Jahre arbeitete sie in der Tübinger Kinderpsyc­hiatrie. Später holte sie die Fachhochsc­hulreife nach. Sie wollte Grafikdesi­gn studieren. Dazu kam es nicht, eine Freundin bat sie um Aufnahmen von ihrem Babybauch. Die Hebammen waren von den Bildern begeistert, stellten sie auf dem Internatio­nalen Hebammenta­g aus. Danach lief alles wie von selbst.

Armbruster fotografie­rte Schwangere, Hochzeiten, Familien, Akte und Architektu­r. 2006 machte sie sich als Fotografin selbststän­dig. Knapp zehn Jahre später las sie im Internet einen Beitrag über die Organisati­on „Dein Sternenkin­d“. Er ließ sie nicht mehr los. Ihr erster Einsatz war ein „sehr liebevolle­r Termin“, erinnert sie sich. Mit den Eltern hält sie bis heute Kontakt.

Alle zehn Minuten unterbrich­t ein Surren die Stille in dem Klinikzimm­er. Dann pumpt sich eine Manschette am rechten Oberarm von Emils Mutter auf, um ihren Blutdruck zu messen. „Er ist so kalt“, sagt sie, als sie die Fußsohlen ihres Sohnes streichelt. Beate Armbruster bittet Emils Vater, seine Hand unter die seiner Frau zu legen. Die Eltern blicken auf ihr Kind. Die Mutter weint. Der Vater streichelt ihr den Rücken. Trauer, Liebe und Erleichter­ung. Armbruster drückt

Sie wuschen ihn und legten ihn in ein Weidenkörb­chen

Der Vater bittet sie, noch ein letztes Bild zu machen

auf den Auslöser. Das erste und letzte Familienbi­ld. Emils Mutter sinkt ins Kissen zurück.

„Macht Ihnen das nichts aus?“, will sie wissen. „Überhaupt nichts“, antwortet die Fotografin. „Ich bin ganz begeistert, dass Sie Ihren Sohn so anfassen.“Emils Mutter sagt: „Bei unserem ersten Sternenkin­d war es schwierige­r.“Immer wieder schleicht sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Es bewegt sie, dass jemand Fremdes ihrem toten Kind so viel Aufmerksam­keit widmet. Als Armbruster gehen will, bittet Emils Vater sie, ein letztes Bild von seinem Sohn in dem Körbchen zu machen. Widerstreb­end gibt seine Frau ihr Kind aus der Hand. Nach zwei Stunden verabschie­det sich Armbruster und ermutigt die Eltern, nicht aufzugeben.

Vor der Drehtür der Klinik bleibt sie stehen. „Die Eltern von Emil haben eine große Kraft ausgestrah­lt“, sagt sie. „Es ist nicht selbstvers­tändlich, dass eine Schwangers­chaft mit dem Leben endet, das vergessen wir leider oft.“Sie holt ihre E-Zigarette aus der Jackentasc­he. Nach den Terminen raucht sie immer. Heute nicht. Der Akku ist leer. Sie flucht.

Auf dem Weg zur Tankstelle erzählt sie von ihrem bisher schlimmste­n Einsatz. Zwillingsm­ädchen. Vier Monate nach der Geburt infizierte sich eines der Kinder mit einem Keim, der langsam das Gehirn zerfrisst. Nach der Diagnose baten die Eltern Beate Armbruster um Bilder von ihrer todkranken Tochter. Auch die Taufe der Zwillinge fotografie­rte sie. Vor einigen Wochen holten die Eltern ihre Tochter aus dem Krankenhau­s. Sie sollte zu Hause sterben. Als Armbruster davon erzählt, schluckt sie. Zum ersten Mal.

Tage später kommt Beate Armbruster dazu, die Fotos von Emil zu sichten. Manche Eltern bekommen von ihr auch zwei bis drei retuschier­te Bilder. Damit sie ihr Kind Freunden und Verwandten zeigen können – ohne Wunden, Schorf, Blutflecke­n. „Den Tod kriegt man aus den Bildern aber nicht raus“, sagt sie. 150 bis 800 ausgewählt­e Bilder lädt sie auf einen USB-Stick für die Eltern, einige der Fotos druckt sie auf mattes Papier und verschickt sie mit einer Karte. Dieser letzte Akt ist ihr wichtig. Es ist ihr ganz persönlich­er Abschied.

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 ?? Foto: Beate Armbruster ?? Große Hände, die eine kleine Hand halten: Diese Bilder sind oft das Einzige, was den Eltern von ihrem Kind bleibt.
Foto: Beate Armbruster Große Hände, die eine kleine Hand halten: Diese Bilder sind oft das Einzige, was den Eltern von ihrem Kind bleibt.
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Foto: Theresa Tröndle Beate Armbruster zählt nicht, wie viele Sternenkin­der sie schon fotografie­rt hat. Zwischen 50 und 60 waren es, schätzt die Frau aus Reutlingen.

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