Mindelheimer Zeitung

Ohne Worte

Sven Handwerk und Sali Chasim sind taubstumm und spielen für den FC Bad Wörishofen. Mit welchen Herausford­erungen die beiden konfrontie­rt sind – und wie sie sich trotzdem Gehör verschaffe­n

- VON MAX KRAMER Von elf Freunden zwei besondere: Chasim und Handwerk sind einander zu wichtigen Bezugspers­onen geworden.

Bad Wörishofen Sonntag, 12.55 Uhr, auf der Sportanlag­e in Bad Wörishofen. Noch ein lockerer Spruch, noch einmal Motivieren, noch einmal Abklatsche­n: Der Geräuschpe­gel in der Kabine ist hoch, jetzt, wenige Augenblick­e vor dem Anpfiff. Nur zwei schweigen – und sprechen doch. Mit ihren Händen. Sali Chasim und Sven Handwerk, die gleich für den FC Bad Wörishofen auflaufen werden, sind taubstumm.

Kommunikat­ion auf dem Platz ist das A und O – von der Bundesliga bis zur Kreisklass­e. Wo steht ein freier Mitspieler? („Diago!“) Bekomme ich Druck durch einen Gegner? („Hintermann!“) Welche Anweisunge­n gibt der Trainer? („Pressen!“) Eigentlich unerlässli­che Fragen, die für Gehörlose auf dem Platz aber unbeantwor­tet bleiben müssen.

Doch Spieler und Trainer des FC Bad Wörishofen haben sich mit der außergewöh­nlichen Situation arrangiert. Lassen Fußballer in der Regel am liebsten die Füße für sich sprechen, sind es im Umgang mit Sali Chasim und Sven Handwerk fast ausschließ­lich Arme und Hände. Ein Schauspiel, das schon beim Warmmachen beginnt. Flach spielen: beide Handfläche­n nach unten. Lange Bälle: ein Fingerzeig nach oben. Seitenwech­sel: eine Handbewegu­ng in hohem Bogen von rechts nach links, oder andersheru­m. Einfachste Kommandos, die die Einfachhei­t des Fußballs wortlos definieren.

Beide gehör- und sprachgesc­hädigten Spieler besetzen in der zweiten Mannschaft des FC Bad Wörishofen Schlüsselp­ositionen: Handwerk als Torwart, Chasim als zentraler Stürmer. Rollen, die es erfordern, sich Gehör zu verschaffe­n. Und dafür sorgen sie: mit dumpfen Schreien, die eindringli­cher sind als das Gebrüll, das sonst so manchen Amateur-Fußballpla­tz umhüllt. Von Handwerk, wenn er sich den Ball nach einer Ecke schnappt. Von Chasim, wenn er eine gute Chance wittert und deshalb den Ball fordert. Kommt der Ball dann in seinen Lauf, pfeift der Schiedsric­hter, der vom Handicap der beiden weiß, nicht selten ab: Abseits. Doch Sali Chasim läuft einfach weiter. Und schießt. Und trifft. Und hadert, als er bemerkt, dass das Spiel längst unterbroch­en war. Abseits? Ich? Niemals, Schiri!

Eine Reaktion, die im Fußball so normal ist wie der Ball selbst. Und auch sonst unterschei­det sich das Verhalten der beiden kaum von dem eines jeden anderen Kickers. Stürmer Sali Chasim foult, meckert, lässt sich zu Schwalben hinreißen. Sven Handwerk dirigiert als Torhüter bei Freistößen händisch seine Mauer, wuchtet den Ball bei Abschlägen tief in die gegnerisch­e Hälfte – und stützt seine Hände konsternie­rt in die Hüfte, nachdem er den Ball zum 0:1 passieren lassen muss. Einmal Kopfschütt­eln, einmal auf den maroden Rasen des Nebenplatz­es spucken. Dann klatscht der neongrün gekleidete Torwart mehrmals fest in die Hände, streckt seine Brust heraus. Eine unmissvers­tändliche Aufforderu­ng an die Mitspieler: Kopf hoch, weiter geht’s!

Stürmer Chasim wird anschließe­nd ausgewechs­elt. Nicht aus Leistungsg­ründen, immerhin hat er zumindest einmal den Pfosten getroffen. Sondern weil er leicht angeschlag­en ist – und weil es in der B-Klasse Allgäu 8 eben auch darum geht, dass alle einmal drankommen. Am Ende bleibt es beim 0:1 gegen den favorisier­ten Tabellendr­itten, den SV Mattsies II. Die Reserveman­nschaft des FC Bad Wörishofen verharrt im unteren Tabellendr­ittel, doch der Ärger hält sich in Grenzen: Absteiger gibt es in dieser Liga nicht.

Unmittelba­r nach dem Schlusspfi­ff gehen Sali Chasim und Sven Handwerk gemeinsam in ihre eigene, stille Analyse: Ja, dieser eine Pass kam nicht gut, dort hätte man schneller schießen müssen. Und während die beiden so wortlos, aber wild gestikulie­rend am Seitenrand stehen, marschiere­n die ersten Mitspieler wieder in Richtung Kabine. Auf dem gepflaster­ten Weg klackern 22 Paar Stollen-Schuhe. Schweißger­uch liegt in der Luft. Ab in die Dusche.

20 Minuten später sitzen Chasim und Handwerk in dem Vereinshei­m zwischen Eisstadion und Flugplatz. Dort, wo seit über 50 Jahren Spieler, Trainer und Zuschauer ein- und ausgehen. Zwei wie sie hat es hier noch nicht gegeben. Und weil Handwerk gut Lippen liest, dank eines Knopfs im Ohr auch ein wenig hört und kurze, einfache Sätze formuliere­n kann, beginnt er, über sich und seinen Mannschaft­skollegen zu sprechen.

„Es ist alles tipptopp“, sagt der 28-Jährige dann, wenn man ihn nach dem Zusammensp­iel mit den Mannschaft­skollegen fragt, die aus aller Welt kommen. „Es ist immer lustig. Und da wir viele Situatione­n besser sehen können, haben wir im Spiel auch keine großen Probleme“, erklärt Handwerk, der als Produktion­shelfer bei Iwis in Landsberg arbeitet und nebenbei auch beim Gehörlosen-Sportverei­n (GSV) Augsburg spielt. „Aber wenn alle lachen, dann muss man uns erklären, was gerade lustig ist. Das macht keinen Spaß. Wir müssen also beide geduldig sein.“

Bis er sechs Jahre alt war, brauchte Handwerk kein Hörgerät. „Mit sieben war mein Gehör dann aber fast komplett kaputt. Ich weiß nicht, warum.“Auch eine Operation brachte keine Besserung. Doch anstatt sich zu verstecken, wollte er am Leben teilnehmen und begann als 18-Jähriger, Vereinsfuß­ball zu spielen. Nach einem Umzug wechselte er zur laufenden Saison vom FC Jengen zum FCW – und begrüßte dort wenige Wochen später Sali Chasim.

Der 19-Jährige mit griechisch­en Wurzeln kam taubstumm auf die Welt und trat erstmals als Jugendlich­er beim ESC Rellinghau­sen 09 in der Nähe von Essen gegen den Ball. Inzwischen ist er mit seiner Familie

Der Schiedsric­hter pfeift ab – doch Sali Chasim läuft weiter

in Kaufbeuren sesshaft geworden – die Frau ebenfalls taubstumm, die Tochter hörend. Demnächst beginnt er eine Ausbildung zum Industriem­echaniker in Nürnberg.

Berufliche Ziele, private Verpflicht­ungen und auch sein Handicap halten Chasim aber nicht davon ab, auch sportliche Ambitionen zu hegen. „Ich möchte gut trainieren, damit mich der Trainer für die erste Mannschaft nominiert. Aber das braucht Zeit“, übersetzt Handwerk die Gebärdensp­rache seines Kollegen. Ein Platz auf der Bank reicht ihm auf Dauer nicht. „Ich wünsche mir, höherklass­ig zu spielen, vielleicht in der Kreisliga. Dafür würde ich auch zu einem anderen Verein wechseln“, zitiert ihn Handwerk.

Dafür würde es Chasim in Kauf nehmen, die Mannschaft zu verlassen, in der er mit Handwerk einen besonderen Freund gefunden hat. „Sven ist wichtig für mich. Er motiviert mich sehr und gibt sich viel Mühe. Wir vertrauen uns“, sagt Chasim und reibt sich demonstrat­iv die Augen, als sein Kollege erwidert: „Es wäre schade, wenn Sali gehen würde.“

Zumindest jetzt, nach einer herzlichen Umarmung, trennen sich die Wege der beiden, sie werden erwartet. Während sich Sali Chasim bald auf den Heimweg macht, bleibt Sven Handwerk noch eine Weile im Klubheim, um mit den anderen Spielern anzustoßen, eine Zigarette zu rauchen – und sich natürlich auch zu unterhalte­n. So, wie es eben geht. Mit Händen und Füßen.

Ein Platz auf der Bank reicht Chasim auf Dauer nicht

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Fotos: Max Kramer Der Stürmer schießt, der Torwart packt zu: Sali Chasim (links) und Sven Handwerk, zwei taubstumme Fußballer des FC Bad Wörishofen, analysiere­n ihr Spiel wortlos, aber intensiv.
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Wittert er im Spiel eine Chance, macht Chasim mit dumpfen Schreien auf sich aufmerksam.
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