Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (106)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat.
Es war klar, der junge Mann konnte den ungelegenen Besuch erst melden, wenn der Vorleser fertig war. Die elektrische Glocke an der Eingangstür schrillte. In den Zimmern schien man es nicht gehört zu haben. Die Glocke schrillte noch einmal. Etzel überlegte, ob er öffnen solle, er fand, daß er kein Recht dazu habe. Da kam durch eine andere Tür der Wohnung, als durch die der junge Mann verschwunden, eine Frau von achtunddreißig oder vierzig Jahren. Ihre Haltung und Miene verriet Etzel, daß es die Frau des Hauses war. Das Gesicht zeigte Spuren großer Schönheit, sah jedoch welk und müde aus. Etzel hatte niemals daran gedacht, daß hier auch eine „Frau“sein konnte, es überraschte ihn und vermehrte seine Unruhe. Die Frau stutzte, als sie den jungen Menschen gewahrte, und fragte: „Hat es nicht eben geläutet?“„Ja, zweimal, gnädige Frau“, erwiderte Etzel und hatte das Gefühl, sich wegen seines albernen Dasitzens entschuldigen
zu müssen. Die Frau öffnete. Draußen stand eine andere Frau, sehr jung noch, blühend jung, sehr hübsch, mit blitzenden Augen, mit einem frischen, übermütigen Mund. Was sich nun zutrug, war merkwürdig. Die beiden Frauen maßen einander stumm und feindselig. Die junge Frau draußen schien unangenehm berührt, die andere vor sich zu sehen. Es machte den Eindruck, als habe sie bestimmt damit gerechnet, sie nicht anzutreffen. Die Frau des Hauses reckte sich ein wenig empor, zuckte die Achseln, ließ ein kurzes, gurrendes, verächtliches Lachen hören und schlug die Tür wieder zu. Die Brutalität der Geste hatte bei ihrem scheuen, melancholischen Wesen etwas Erschreckendes. Dann stand sie da, mit gesenktem Kopf. Der blaue Seidenschal, den sie um die Schultern trug, war auf der einen Seite herabgeglitten, ohne daß sie es merkte. Es war, als habe sie für einige Minuten alles um sich vergessen. Ein unbeschreiblich tiefer Kummer malte sich in ihren Zügen. Sie glich einer steinernen Figur, in der die völlige Schmerzversunkenheit ausgedrückt ist. Plötzlich zuckte sie zusammen und ging mit schweren Schritten wieder in die Wohnung hinein. Nach Etzel schaute sie gar nicht mehr hin. Der saß geduckt auf seinem Stuhl mit einer Empfindung, als habe er sich an fremdem Eigentum vergriffen. Und einer noch peinvolleren: auch vor dieser Pforte machte das Schicksal nicht halt, auch über sie wälzte das Leben seine trüben Wogen, auch der hohe Mensch, der geschrieben hatte: Auf dem vollsten Glas schwimmt noch das Blütenblatt einer Rose, und auf dem Blütenblatt haben zehntausend Engel Platz, auch er war nicht verschont von den Verwirrungen des Tages, auch um ihn tobten Leidenschaften und wölkten Traurigkeiten, es lag nun alles ein wenig entblößt vor Etzels Augen, das priesterliche Heiligtum war eine Menschenbehausung geworden, und wie man mit geminderter Sicherheit über eine Brücke schreitet, von der man einen Pfeiler vermorscht weiß, auch wenn zugleich Lastfuhrwerke sie befahren, war ihm nunmehr der Sinn beengt, der Grund schwankend geworden. Indessen erschien der junge Mann wieder und forderte ihn freundlich auf, einzutreten.
Melchior Ghisels Haus war ein Zufluchtsort der geistig Bedrängten, der Ringenden, Aufstrebenden, Ratlosen, Gescheiterten und Verirrten. Man ging zu ihm wie zu einem großen Arzt, oft wurde seine Stube von Mittag bis Mitternacht von Besuchern nicht leer, Leuten jeden Alters, Männern und Frauen, Literaten, Künstlern, Schauspielern, Studenten, Emigranten, Politikern, so daß die nächsten Freunde und seine Frau sich bisweilen entschließen mußten, den Zudrang abzuwehren. Er war seit einigen Jahren ernstlich leidend und den Anstrengungen nicht mehr gewachsen. Alle hingen an seinen Lippen, breiteten die delikatesten Angelegenheiten ihres Lebens vor ihm aus, legten ihm ihre Gewissens-, ihre Berufskonflikte vor, wollten ihre Arbeiten von ihm beurteilt wissen, verstrickten ihn in weitgreifende Erörterungen über Probleme der Kunst, der Religion, der Philosophie, und es gab kaum einen, der sich nicht zum Schluß vor einem autoritativen Wort aus seinem Munde beugte. Es waren Personen darunter, die ihm in keiner Weise vertraut, ja nicht einmal lieb waren und deren seelische Nöte und wirtschaftliche Schwierigkeiten ihn durch Wochen, durch Monate intensiv beschäftigten. Dann verschwanden diese Personen spurlos, und er hörte gewöhnlich nie wieder etwas von ihnen. Er fühlte sich dadurch nicht enttäuscht, auch kam er sich nicht verraten oder hintergangen vor, wenn ein Mensch, dem er beigestanden, sich seinem Einfluß entzog oder ihm gar mit Undank lohnte. Auch dies bereicherte ihn. Nicht im Sinne der Erfahrung, sondern der Vermehrung einer außerordentlich tiefen Intuition des Lebens, die ihn mild machte, gleichsam gnädig, und vor allem in einem Maße verstehend, daß er manchmal durch Selbstwiderspruch unverständlich wurde. Er nahm an andern nichts leicht, nicht einmal die anspruchsvolle Hohlheit des Dilettanten, sogar sein Spott war noch gewissenhaft, wenn man so sagen kann. Was er selbst äußerte, hatte hingegen die Leichtigkeit, die nur der vollkommenen Beherrschung aller Mittel eigen ist, mit ihm zu sprechen war beglückend, eben weil es so leicht war. Was er mitteilte, schien er nur von sich los haben zu wollen, dadurch enthob er den Empfänger jeder Verpflichtung, wenn man einfach aufnahm, war man, so schien es, genau so tätig, beziehungsvoll schöpferisch, geistreich und wissend wie er selbst. Es war alles organisiert bei ihm, zusammengefaßt, vom Zentrum aus bedient, und zwischen geistigem und seelischem Bezirk klaffte nicht jene verzweifelte Leere, die es bewirkt, daß aus Legionen von erstaunlichen Begabungen nicht ein einziger, großer Mensch sich erhebt. So war er befähigt, allen Ereignissen, allem Persönlichen, jedem Werk und jedem Schicksal einen selbstgeschaffenen Sinn zu unterlegen, den er in seiner Existenz auflöste, um ihn über die Erkenntnis hinaus fruchttragend zu machen.
Daß Etzel, halber Knabe noch, unreif, weltunerfahren, schon mit dem Erwachen seines Weltbewußtseins sich von einem solchen Manne magnetisch angezogen fühlte, dessen Art und Prägung ihm zudem nur durch Bücher vermittelt worden, spricht nicht zuletzt für einen auch in ihm vorhandenen Magnetismus, mag man ihn Instinkt oder Herzenskraft nennen. Freilich, der nämliche tiefe Instinkt hatte ihn mit jedem Schritt, der ihn dem verehrten Menschen näherbrachte, zaghafter und banger werden lassen. Der Zwischenfall mit den beiden Frauen war dann nur zur äußeren Figur des nagenden Zweifels geworden: ob es überhaupt einen Menschen auf der Welt gab, den höchsten, den weitesten nicht ausgenommen, von dem er erfahren konnte, was, wenn es nicht zu erfahren und sicherzustellen war, ihm das Leben gänzlich unwert machte.