Kurz vor dem Ziel ausgebremst
Vor einigen Wochen wollte ich eine Freundin besuchen. Früher wohnten wir in einer WG, Zimmertür an Zimmertür. Wenn ich sie sehen wollte, habe ich geklopft. Manchmal sind wir uns den ganzen Tag nicht begegnet. Damals kam mir das vor wie eine Ewigkeit.
Heute lebt sie noch immer in der Stadt, in der wir studiert haben, mittlerweile liegen zwischen uns 500 Kilometer. Wenn ich sie treffen will, ist das jedes Mal unglaublich aufwendig. Schon ab Januar tasten wir uns an ein mögliches Datum heran. Kalender werden abgeglichen und freie Wochenenden gesucht, SMS und Sprachnachrichten in großer Zahl verschickt. Mal ist sie im Urlaub, danach wieder ich.
Aber dann, im April: ein Treffer. Ich nehme einen Tag frei, buche ein Ticket und sitze bald darauf im Zug, sechs Stunden, einmal Umsteigen. Als knapp die Hälfte der Zeit vorüber ist, vibriert mein Handy, eine Sprachnachricht. Gerade, hastet meine Freundin ins Telefon, habe sie ihren kleinen Sohn aus der Krippe abgeholt und zum Arzt gebracht. Bindehautentzündung, hoch ansteckend. Auf keinen Fall kommen!
Ich telefoniere und plane mein Wochenende um, drei Mal reißt die Verbindung im Zug ab, der Akku ist fast leer. Am nächsten Bahnhof steige ich aus und kaufe ein Ticket in die entgegengesetzte Richtung. Ich fühle mich ein wenig wie ein Langstreckenläufer, der kurz vorm Ziel ausgebremst wird.
Ende Mai wollen wir einen neuen Anlauf wagen. Ein genauer Termin steht noch nicht fest. Aber wir nähern uns an, Sprachnachricht um Sprachnachricht.