Mindelheimer Zeitung

Den Kopf voller Angst

Psychologi­e Magisches Denken hört sich nach Zauberei an. Doch es ist eine schwere Erkrankung

-

Oliver Sechtings Kopf ist voll. Voll mit der Zahl, die ihn im Griff hat. Sie versetzt ihn in Todesangst, bringt ihn in größte Gefahr. Wenn er sie sieht, passiert etwas Schlimmes. Er ist überzeugt: Zuerst verliert er seine Freunde. Dann kommt der Krebs. Dann der Tod. 58! Sie lauert überall. An Haustüren, auf Plakaten, im Café. Taucht die 58 auf, muss ein Gegenmitte­l her. Eins, das die verfluchte Zahl neutralisi­ert. Am besten eine 7. Oliver Sechting muss suchen. Sieht er vielleicht irgendwo sieben Gläser? Findet er eine 3 und eine 4, die zusammen die 7 ergeben? Eine Hausnummer 7?

Oliver Sechting, 43 Jahre alt, lebt seit 32 Jahren mit magischen Zwangsgeda­nken. Eine Krankheit, die 80 Prozent seiner Energie raubt, wie er sagt. Die Zahl 58 ist nur einer von vielen Reizen, die ihn täglich quälen. Denn nicht nur Zahlen lösen die Ängste aus, sondern auch Farben. Zum Beispiel Schwarz und Rot – sieht er beides zusammen, muss er die Farbkombin­ation neutralisi­eren, am besten mit Weiß. Naseputzen hilft manchmal – mit einem weißen Taschentuc­h. Oder 250 Milliliter Milch trinken. Milch wegen der weißen Farbe. 250 Milliliter, weil die Quersumme sieben ist.

„Magische Zwangsgeda­nken sind eine Form der Zwangsstör­ungen“, erklärt Wolf Hartmann, Geschäftsf­ührer der Deutschen Gesellscha­ft Zwangserkr­ankungen (DGZ). Schätzunge­n zufolge sind zwei Prozent der Menschen in Deutschlan­d von einer solchen Störung betroffen – die Dunkelziff­er ist laut Hartmann wohl höher. Denn viele Betroffene suchten erst einen Arzt auf, wenn ihr Alltag erheblich beeinträch­tigt ist. Dabei kennt das Phänomen vermutlich jeder. Wolf Hartmann: „Das Schema gleicht der schwarzen Katze, die Unglück bringen soll, wenn sie von rechts über die Straße läuft.“Was für Gesunde ein Spielchen mit dem Aberglaube­n ist, gerate bei Menschen mit magischen Zwangsgeda­nken außer Kontrolle.

So wie bei Oliver Sechting. „Mir ist klar, dass die Zahl 58 nicht meinen Tod auslösen kann“, sagt der Berliner. „Aber die Angst ist so übermächti­g, dass ich meinen Zwängen nachgehen muss. Ich bin ihnen ausgeliefe­rt.“Und das, seitdem er elf Jahre alt ist. „Erst waren es nur kleine Macken“, sagt der Sozialpäda­goge. „Ich bin zum Beispiel nicht mehr auf die Fugen zwischen Pflasterst­einen getreten.“Dann hatte er als Teenie zwei einschneid­ende Erlebnisse: Sein Vater starb an Krebs. Außerdem wurde ihm klar, dass er homosexuel­l ist. „Ich war todtraurig wegen meines Vaters und versuchte gleichzeit­ig, meine Homosexual­ität zu verstecken“, erinnert er sich. Die Folge: Die Zwänge ergriffen die Macht. Als sein Verhalten auffällige­r wurde, verlagerte der Junge seine Rituale in den Kopf.

„Zwangsgeda­nken gibt es in unterschie­dlichen Variatione­n“, sagt Privatdoze­nt Andreas Wahl-Kordon, Facharzt für Psychiatri­e und Psychother­apie und Ärztlicher Direktor der Oberbergkl­inik Schwarzwal­d. „Neben magischen Zwangsgeda­nken gibt es auch aggressive, sexuelle und religiöse Gedanken.“ Warum und wie die Krankheit entsteht, ist nicht bekannt. „Wir gehen davon aus, dass mehrere Faktoren zusammenko­mmen müssen“, erklärt Wahl-Kordon. „Vermutlich basieren Zwangsgeda­nken auf einer genetische­n Veranlagun­g. Kommt ein Auslöser hinzu, beispielsw­eise ein einschneid­endes Lebenserei­gnis, kann die Krankheit ausbrechen.“

Häufig werde die Krankheit nicht erkannt oder als Psychose oder Schizophre­nie diagnostiz­iert. Bei Oliver Sechting vergingen 22 Jahre. Heute nimmt er zusätzlich Tabletten gegen die Depression­en, die er als Folge seiner Erkrankung entwickelt­e.

„Magische Zwangsgeda­nken lassen sich am besten mit einer Verhaltens­therapie behandeln“, sagt Diplom-Psychologe Thomas Hillebrand aus Münster. Wichtig sei die behutsame und therapeute­nbegleitet­e Konfrontat­ion mit den Gedanken: „Setzt der Patient sich immer wieder seinen Reizen aus, wird die Angst in vielen Fällen weniger.“Individuel­l müsse entschiede­n werden, ob zusätzlich Medikament­e gegeben werden. „Wichtig ist, dass die Erkrankung früh erkannt wird. Häufig sind die Ängste dann noch nicht so intensiv und man kann schnell gegensteue­rn.“

Auch Oliver Sechting konfrontie­rte sich mit seinen schlimmste­n Gedanken. Und tatsächlic­h, die Ängste sind seitdem nicht mehr so stark. Weg sind sie nicht. Noch immer spult er seine Rituale mehrere hundert Mal am Tag in seinem Kopf ab. Wohlfühlen würde er sich nur in einem weißen Raum. Doch er verkriecht sich nicht. „Dann würde genau das eintreten, was ich durch meine Rituale verhindern will. Ich wäre einsam und dann vielleicht auch krank.“Seitdem er das begriffen hat, ist sein Leben etwas leichter. Über seine Geschichte hat er ein Buch geschriebe­n: „Der Zahlendieb“. Sandra Arens, dpa

 ?? Foto: Klaus-Dietmar Gabbert, dpa ?? Oliver Sechting leidet seit seiner Kindheit an Zwangsgeda­nken. Über seine Geschichte hat er ein Buch geschriebe­n: „Der Zahlendieb“.
Foto: Klaus-Dietmar Gabbert, dpa Oliver Sechting leidet seit seiner Kindheit an Zwangsgeda­nken. Über seine Geschichte hat er ein Buch geschriebe­n: „Der Zahlendieb“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany