Der Leonardo da Vinci aus Günzburg
Das Frühwerk „Madonna mit der Nelke“gelangte einst unter tragikomischen Umständen in die Alte Pinakothek Münchens. Sein Preis: 800 Mark plus Verdienstorden
Schauen Sie genau hin! Sehen Sie, wie die Feinmotorik des Jesus-Knaben noch nicht ausgebildet ist und er noch unbeholfen nach der Nelke zu greifen versucht, die ihm Maria, die Madonna, entgegenhält – als tragisches Symbol seines Opfertods drei Jahrzehnte später.
Nelke, Madonna – dies sind auch die Stichworte für das einzige Ölgemälde von Leonardo da Vinci in Deutschland. „Die Madonna mit der Nelke“, kurz die „Nelkenmadonna“, hängt als ein Frühwerk des Künstlers, dessen 500. Todestag heute gedacht wird, in Münchens Alter Pinakothek. Entstanden ist sie wohl um 1475, als Leonardo zwar schon ausgelernt hatte, aber noch immer in der Werkstatt seines florentinischen Lehrmeisters Andrea del Verrocchio tätig war. Damals experimentierte Leonardo – seinen Lehrmeister hinter sich lassend – bereits mit Öl (statt Eigelb) als Farb-Bindemittel – eine Voraussetzung für seine spätere, berühmte Sfumato-Technik für weichere Farbübergänge.
Schon mancher bayerische Schwabe hat die „Nelkenmadonna“in der Alten Pinakothek eingehend betrachtet – und nicht geahnt, dass sie einst für viele Jahre in der 1812 im klassizistischen Stil errichteten („Oberen“) Apotheke am Marktplatz von Günzburg neben weiteren Kunstwerken hing. Wie sie dorthin gekommen war – etwa durch Besitz/Erwerb des einheiratenden Apothekers Auxilius Urbani aus Italien oder durch Ankauf aus einem aufgelösten Kloster der Umgebung Günzburgs –, konnte bis heute nicht eruiert werden. Aber gut dokumentiert ist, wie der Leonardo unter tragikomischen Zügen in die Alte Pinakothek gelangte.
Von Urbani ging die Günzburger Apotheke in die kunstsinnige Familie Wetzler über, und als deren Besitztum in den 1880er Jahren versteigert wurde, konnte der praktische Arzt Albert Haug den Leonardo als ein Schnäppchen inklusive Renaissance-Rahmen erwerben. Quellen sprechen von 22 beziehungsweise 47,50 Mark.
Auch Haug besaß Kunstverstand und wurde mit seiner „Nelkenmadonna“1889 in der Alten Pinakothek vorstellig, um deren „künstlerische Herkunft prüfen zu lassen“. Selbst wenn über die Autorschaft noch länger unter Kunsthistorikern debattiert werden sollte: Dass da ein gewichtiges Werk, von wem auch immer aus der Verrocchio-Werkstatt vorlag, war schnell klar. Und Haug verkaufte das Werk, weil er eigener Aussage nach „nicht geldsüchtig“sei, für 800 Mark nach München – obwohl es auf einen deutlich höheren Wert geschätzt worden war. „Die Nelkenmadonna“wurde im Mai 1889 in die Staatsgemäldesammlungen eingereiht unter der Zuschreibung „Schule des Verrocchio. Wahrscheinlich Leonardo da Vinci“. Aber schon im Oktober erhärtete sich durch drei Gutachten die Autorschaft Leonardos, und nun bangte die Alte Pinakothek, Albert Haug könnte finanzielle Nachforderungen stellen.
Gewitzt kam Franz von Reber, der Direktor der „Königlich Bayerischen Zentral-Gemäldegalerie“, auf die Idee, Haug vorsorglich einen Verdienstorden zu verleihen – was Prinzregent Luitpold auch genehmigte. Laut Haug’scher Familienchronik aber hat Albert Haug den Orden nie getragen.
Heute jedenfalls hängt die günstig ersteigerte „Nelkenmadonna“in der Alten Pinakothek. Sie wird 2019 zu den Leonardo-Ausstellungen in Italien und Frankreich nicht reisen. Wie die Mona Lisa auf Pappelholz gemalt, ist sie aus konservatorischen Gründen
Ein Verdienstorden, der nicht getragen wurde