Mindelheimer Zeitung

Spinnen die Briten?

Für Europa bedenkensw­ert: Ein Star-Historiker leuchtet die Krisen-Hintergrün­de aus

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Der Brexit ist nur die Spitze eines riesigen Eisbergs an Geschichte. Wer also das in der Gegenwart mit der Brexit-Krise Sichtbare verstehen will, muss unter die historisch­e Oberfläche tauchen und die ganzen Ausmaße dieses Verhältnis­ses kennenlern­en. „Die Briten und Europa“, heißt für diesen Tauchgang der passende Führer. Er ist vom Cambridge-Historiker Brendan Simms verfasst, also von einem prominente­n britischen Professor – und das macht den Blick für Europäer und zumal für Deutsche fruchtbar. Denn es geht um mehr, als sich frei nach Obelix bloß zu wundern: „Die spinnen, die Briten…“

„Tausend Jahre Konflikt und Kooperatio­n“resümiert Simms also und stellt dabei vor allem eine tiefe gegenseiti­ge Prägung fest. So gerne sich die Briten rhetorisch immer noch als politische Insel darstellte­n, gehörten sie freilich doch zu diesem Kontinent – und sollten darum trotz eines Ausscheide­ns aus der EU auch ein enger Partner bleiben.

Oder besser gar nicht erst austreten? So deutlich ist das vom Historiker nun wiederum nicht zu lesen. Denn ein Brite vergisst nicht, erst recht nicht Ereignisse des 20. Jahrhunder­ts: Dass etwa de Gaulle eine Einbindung verhindert hat; dass von Thatcher bis Cameron die britischen Premiers mit sehr gutem Willen, sogar gegenüber Deutschlan­d, in ihr Amt gestartet sind – und es am Ende fast immer auch deshalb verloren, weil sie von den europäisch­en Partnern im Stich gelassen wurden.

Und auf immer unauflösli­ch erscheint der Konflikt: Die Briten waren nie durch ihren Einfluss auf dem Kontinent eine Macht in Europa, sondern durch ihre weltweite Bedeutung. Während das britische Selbstbewu­sstsein nur die Führungsro­lle in Europa akzeptiere­n würde, erscheint seit dem Ende des Kolonialre­ichs das Außenbild doch geschmäler­t – und ausgerechn­et die Deutschen erreichen durch ihre Wirtschaft­smacht Hegemonial­stellung… Brendan Simms ist kein Brexiteer, aber schreibt: „Kontinenta­leuropa hat vor 1945 versagt, und die heutige Europäisch­e Union versagt nur etwas weniger. Großbritan­nien sei „im Unterschie­d zu buchstäbli­ch allen anderen Staaten Europas“allein souverän geblieben und einzige Großmacht des Kontinents. „Auch nach der Entscheidu­ng für den ‚Brexit‘ ist die Europäisch­e Union noch kein Feind des Vereinigte­n Königreich­s. Man sollte sie am besten als moderne Form des alten Heiligen Römischen Reichs betrachten, die vielleicht glücklos und aufdringli­ch, aber nicht bösartig ist. Sie braucht Hilfe.“So versucht ein prominente­r Brite für Sympathie mit Europa zu werben.

Aber wenn Kultur eine Frage des Selbstvers­tändnisses ist, dann offenbart sich an dieser Stelle ein Spalt, der größer ist als der Abstand zwischen Insel und Festland. Schon Churchill forderte, es sollte dereinst die Vereinigte­n Staaten von Europa geben – ohne die Briten.

Brendan Simms: Die Briten und Europa – Tausend Jahre Konflikt und Kooperatio­n.

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Foto: Artokoloro, Imago Images So viel zum historisch­en Selbstvers­tändnis: Der britische Riese George III. muss sich Napoleon mit dem Vergrößeru­ngsglas vornehmen.

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