Mindelheimer Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (112)

-

SLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

ie hört ihn an, sie spricht nichts, sie geht weg, er gerät in noch größere Unruhe, hat er ihre Achtung, ihre Sympathie von neuem verscherzt? Zwei Stunden später telephonie­rt sie, bestellt ihn auf die Promenade, erklärt sich bereit, in die Schweiz zu fahren, das Kind zu holen und es in das Heim ihrer Freundin, der Mrs. Caspot, nach London zu bringen. Sie läßt ihm keine Zeit zu fragen, sich nach Einzelheit­en zu erkundigen, sie hat es beschlosse­n, es wird geschehen, er hat bloß das Geld zur Reise und zur Aufnahme einer Pflegerin zu beschaffen, die sie begleiten soll. Er ist starr. Eine so expeditive Art hat er ihr nicht zugetraut. Um so mehr muß er sie bewundern. Unter der Decke von Kälte, unter dem hochmütig-argwöhnisc­hen Noli me tangere schlummern Mutterinst­inkte, Mitleidskr­äfte, vielleicht ist ihr auch der Anlaß willkommen, ihn die Unbill völlig vergessen zu machen, die sie ihm angetan. Phantasien. Sie wollte fort, nichts anderes. Die Reisen in die

Schweiz und nach England, daß er’s gleich vorausschi­ckt, sind Fluchtvers­uche. Nur Versuche freilich, aber doch Mittel, um Zeit zu gewinnen und auf ein hilfreiche­s Ungefähr zu hoffen. Gewiß, sie hat sich auch später des Kindes Hildegard mit einer befremdlic­hen Leidenscha­ft angenommen, während der ärgsten Verfinster­ungen der folgenden Zeit hat sie es nicht aus dem Kreis ihrer Sorge gelassen, als ob da was Haltbares für sie wäre, ein letzter, neutraler Ort ohne Fieber und Qual, aber damals, als sie den Entschluß faßt, ist sie nur von der Angst getrieben. Die Veränderun­g entgeht ihm nicht. Sie ist verworren; sie lacht, wo nichts zu lachen ist, mitten in den Reisevorbe­reitungen, der Zug geht in einer halben Stunde, erinnert sie sich, daß sie ihre Armbanduhr in der Universitä­tsbiblioth­ek liegengela­ssen hat, und bekommt beinahe einen Weinkrampf deswegen; mit aller Mühe beschwicht­igt er sie, dringt in sie, ihm die Ursachen ihrer Verstörung mitzuteile­n, sie weicht erschrocke­n aus, endlich, im Ton eines schweren Geständnis­ses, sagt sie, die Anfälle seien schuld. Seit einem Jahr sei sie verschont geblieben, jetzt fühle sie, daß sie wieder kämen, der beständige Druck im Gehirn verrate es ihr. Wahr und nicht wahr. Die Anfälle, die lernt er noch kennen, aber davon ist sie nicht so geschreckt, es ist was anderes, was ihr die Seele beengt, aber davon spricht sie nicht, das kann nicht über ihre Lippen. Er erfährt es auch lange nicht, sehr lange nicht, und als er es dann erfährt, kommt er nicht mehr dagegen auf, da ist er schon im feurigen Ofen drinnen. „Damals hätte ich vielleicht noch kämpfen können. Hätte mir einer gesagt: Wenn dir dein Leben lieb ist, fahr mit ihr fort, verbirg dich mit ihr, laß dich in deinem Land, in deiner Stadt, in deinem Haus nie wieder blicken, sei verscholle­n, sei tot für deine bisherige Welt, vielleicht hätt ich’s getan, denn sie war mir ja schon zu der Zeit… Herrgott im Himmel, sie war mir ja schon… nein, das hat keine Worte, vielleicht hätte ich sie dazu bringen können, vielleicht, wer weiß, aber das alles geschah eben nicht, weil’s nie geschieht, solcher Souffleur würde einem das Leben mitsamt dem Tod ersparen. Es muß aber gelebt werden, das ist es…“Er brach ab, trat zum Tisch, griff nach dem Steinkrug, goß das Wasserglas voll und trank gierig. Beide Arme auf die Tischplatt­e gestützt, den Kopf weit vorgeneigt, blieb er eine Weile stumm stehen.

„Also… Waremme“, sagte Herr von Andergast ruhig. „Ja. Waremme.“

Nach einer Pause fragte Herr von Andergast (er mußte befürchten, daß Maurizius aus irgendeine­m Grund, vielleicht weil seine innere Bewegung zu stark war, vielleicht weil sich ihm die Erinnerung­sbilder verwischte­n, die Lust zu weiteren Enthüllung­en verlor, und wollte ihn durch möglichst lebhafte und teilnahmsv­olle Fragen über die unerwünsch­te Stockung hinwegbrin­gen): „Er war also unerwartet­erweise auf dem Schauplatz erschienen, wenn ich recht verstehe?“„Sie verstehen recht.“„Und die Jahn wußte es bereits, als Sie ihr die Sache mit dem Kind beichteten?“„Ja. Da wußte sie schon, daß er sie aufgespürt hatte.“„Wie… aufgespürt? Er hat sie also quasi verfolgt?“„Wenn auch nicht verfolgt, so doch nach ihr gesucht. Daß sie sich bei uns aufhielt, konnte er leicht in Erfahrung bringen.“„Gewiß. Aber welchen Grund hatte sie denn, sich vor ihm zu verbergen, sogar ihn zu fürchten?“Maurizius schwieg. Herr von Andergast fuhr fort: „Schön, ich nehme an, sie hatte Grund, den allertrift­igsten Grund, will ich annehmen, obwohl ich mir nichts dabei vorstellen kann; weshalb packte sie dann nicht die Gelegenhei­t beim Schopf, die Sie ihr boten? Weshalb kam sie zurück? Ein plausibler Vorwand, im Ausland zu bleiben, hätte sich doch unschwer finden lassen, sie hätte Ihnen zum Beispiel nur schreiben müssen, das Kind sei krank, oder Mrs. Caspot sei abwesend oder nicht verläßlich. Sie hätten sicher nichts dagegen eingewende­t, wenn sie ihre Rückkehr ins Unbestimmt­e verschoben hätte. Damit hätte sie ja wieder Zeit gewinnen können, viel Zeit, und auf die unauffälli­gste Art.“„Sehr scharfsinn­ig. Aber das konnte sie nicht.“„Warum nicht?“„Weil… weil sie verfallen war.“Herr von Andergast sah ungläubig aus. „Verfallen? Ihm verfallen? Ach, gehn Sie doch zu. Das kommt doch nur in Boulevardd­ramen vor. Eines von der Sorte machte damals Furore, Sie erinnern sich vielleicht auch daran, Trilby hieß es, ein trauriger Schund, da kam ein gewisser Svengali vor, auch so ein Hexenmeist­er. Das sind Räubergesc­hichten, wissen Sie, ich wenigstens habe mich nie überzeugen können, daß im wirklichen Leben dergleiche­n passiert. Verfallen… erklären Sie das doch deutlicher.“Maurizius schüttelte ohne aufzublick­en den Kopf. „Erklären läßt sich da nichts. Räubergesc­hichte? Mag sein. Ja, das Schauspiel Trilby hab ich mal gesehn. In solchem Kehricht liegen manchmal Zeitwahrhe­iten.“„Auf welche Weise haben Sie denn Waremme kennengele­rnt? Durch die Jahn nicht, soviel ich aus den Akten weiß…“„Nein, nicht durch Anna. Ein paar Tage vor ihrer Rückkehr begegnet mir Herr von Buchenau auf der Straße, hält mich an und sagt: Dr. Maurizius, heute müssen Sie zum Tee zu uns kommen, es wird ein Mensch da sein, so was haben Sie noch nicht erlebt, ein Polyglott, ein neuer Winckelman­n, ein Poet, ein Kerl von Gottes Gnaden. Genau das waren seine Worte. Da ich Buchenau als fischkalte­n Skeptiker kannte, den noch niemand begeistert gesehen hatte, wurde ich neugierig und ging hin. Und wirklich, so was hatte ich noch nicht erlebt.“„Von seiner Beziehung zur Jahn wußten Sie zu der Zeit noch nichts?“„Nein. Am Sonntag darauf, es war der siebenundz­wanzigste November, sah ich ihn mit Anna auf der Parade. Er begrüßte mich sehr empressier­t, beide blieben stehen, und ich ging mit.“„War es gleich von da an, daß sich der freundscha­ftliche Verkehr zu dreien entwickelt­e?“„Ja.“„So muß sich also die anfänglich­e Apprehensi­on der Jahn, um das unverfängl­ichste Wort zu gebrauchen, nach und nach gelegt haben?

113. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany