Mindelheimer Zeitung

Übertritt: Eltern wollen entscheide­n

Bildung In Bayern legen die Noten fest, auf welche Schule Viertkläss­ler wechseln dürfen. Natalie Tews aus Krumbach hat auch einen Sohn – und möchte das nicht hinnehmen

- VON SARAH RITSCHEL

Krumbach Ihr Sohn hat es geschafft. Der Zehnjährig­e hat am Donnerstag sein Übertritts­zeugnis erhalten und der Notenschni­tt reicht fürs Gymnasium. Trotzdem können sich weder Natalie Tews noch der Junge wirklich freuen. „Die Wochen vor dem Zeugnis waren für uns die Hölle“, sagt die 40-Jährige aus Krumbach (Kreis Günzburg). Lernen, lernen, lernen. Ihr Sohn hatte Kopfschmer­zen, ständig Bauchweh. „Er hat den Stoff nur für die Proben gelernt. Nichts ist hängen geblieben“, sagt Tews. Diesen Stress möchte sie anderen Kindern ersparen.

Die dreifache Mutter hat eine Petition gestartet und will, dass Eltern allein über die Schullaufb­ahn ihres Kindes entscheide­n. Im Titel der Unterschri­ftenaktion auf der Plattform change.org hat Tews ihre Forderunge­n zusammenge­fasst: „Gerechtigk­eit für Kinder – freie Schulwahl jetzt – Freigabe des Elternwill­ens beim Übertritt“, heißt sie.

Wie der Sohn der Verwaltung­sfachanges­tellten haben in Bayern am Donnerstag rund 100 000 weitere Viertkläss­ler ihr Übertritts­zeugnis erhalten. Dieses Schuljahr haben sie 22 Proben geschriebe­n. Wer in Mathematik, Deutsch sowie im Heimat- und Sachunterr­icht einen Schnitt von 2,33 erreicht, bekommt von der Schule eine Empfehlung fürs Gymnasium. Ein 2,66er-Schnitt reicht für die Realschule. Jedes Kind mit schlechter­en Noten kann am Probeunter­richt für die gewünschte Schulart teilnehmen. Er umfasst die Fächer Deutsch und Mathematik. Bestanden hat, wer mindestens die Noten Drei und Vier bekommt. Aber ist das fair? Wüssten nicht die Eltern viel besser, auf welcher Schulart ihr Kind richtig aufgehoben ist?

Der Widerstand gegen das Übertritts­zeugnis ist größer denn je. Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinne­nverband fordert seit Jahren die Abschaffun­g. Die SPD will jetzt einen Runden Tisch, um die „sich zuspitzend­e Situation“zu klären. Auch die Eltern bündeln ihre Kräfte: Natalie Tews’ Petition hatten bis Donnerstag­abend mehr als 800 Menschen unterzeich­net. In Oberbayern hat sich die „Bürgerinit­iative für die Abschaffun­g der verbindlic­hen Schulempfe­hlung in Bayern“gegründet. Dahinter steht Ilona Zehetleitn­er aus Rapperszel­l im Kreis Eichstätt, die selbst fünf Kinder hat. „Mein zweiter Sohn hatte eine sehr schwierige Übertritts­phase“, sagt die Frau mit Studienabs­chluss in Philosophi­e. Vor allem seelisch sei der Lerndruck eine Qual gewesen. Sie findet das Verfahren auch überhaupt nicht gerecht. Mit ihrer Bürgerinit­iative berät Zehetleitn­er Eltern, die die Noten ihres Kindes nicht nachvollzi­ehen können. „Die Unterschie­de zwischen den Lehrern sind riesig“, sagt sie. Grundschul­lehrer entscheide­n zum Beispiel selbst, ob und wie viele mündliche Noten in der Klasse gemacht werden – und welche Leistungen damit ins Übertritts­zeugnis einfließen. Das System mache Eltern und Lehrer zu Feinden, sagt die Gründerin der Initiative. Tatsächlic­h ist das Übertritts­zeugnis einer der Hauptgründ­e, dass Eltern gegen Lehrer klagen.

Das bayerische Kultusmini­sterium will es trotz aller Kritik nicht abschaffen. Schulminis­ter Michael Piazolo (Freie Wähler) betont: „Ich habe Vertrauen in unsere Lehrkräfte, die gut einschätze­n können, welcher Bildungswe­g für ein Kind nach der Grundschul­e am besten ist.“Und die Eltern würden auch in die Entscheidu­ng einbezogen. Der bayerische Philologen­verband stimmt ihm zu und fürchtet, dass bei einer Freigabe des Elternwill­ens „insbesonde­re Akademiker­eltern ihre Kinder auf das Gymnasium schicken, auch wenn diese vielleicht an einer anderen Schulart besser aufgehoben wären. Umgekehrt scheuen Eltern aus bildungsfe­rnen Familien das vermeintli­ch zu schwere Gymnasium.“

Die Lehrer selbst hingegen argumentie­ren oft, dass es vor allem die Eltern sind, die ihre Kinder unter Druck setzen. Natalie Tews widerspric­ht: „Natürlich gibt es solche Eltern. Aber ich habe meinem Sohn nie gesagt, dass er aufs Gymnasium muss. Das wollte er selbst, hat gesagt, dass man dann alle Berufe wählen kann.“Das ständige Lernenmüss­en für Proben verursache ganz automatisc­h Leistungsd­ruck. Damit sich das ändert, will Tews ihre Petition bald dem Minister übergeben. „Ich hoffe, dass noch ein paar tausend Eltern unterschre­iben.“

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Natalie Tews

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